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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

– er war der geachtetste Mann in der Stadt. Jetzt stand er vorwärts gebeugt da, und seine Hände wühlten in dem Golde. Was war das für sein eigenthümlicher Blick, der aus dem kalten Auge auf mich fiel! ‚Der Schusterjunge?‘ wiederholte er, ‚was hat der damit zu schaffen?‘

‚Nun, das ist sein Erbe, Vater!‘ Ich hatte das Testament des alten Adrian in der Hand und deutete auf den Namen ‚Hirschsprung‘.

O, wie entsetzlich veränderte sich plötzlich dies sonst so unbewegliche Gesicht!

‚Bist Du wahnsinnig?‘ schrie er auf und schüttelte mich heftig am Arme. ‚Dies Haus gehört mir mit Allem, was es enthält, und ich will den sehen, der mir auch nur einen Pfennig Werth von meinem Grund und Bodens wegholt!‘

‚Sie sind vollkommen in Ihrem Recht, lieber Vetter,‘ bestätigte Paul Hellwig mit seiner sanftesten Stimme. ‚Aber vordem hat das Haus, mit Allem, was es enthalten, meinem Großvater gehört.‘

‚Schon gut, Paul, ich leugne Deinen Anspruch nicht!‘ sagte mein Vater… Sie trugen den Kasten vor in das Haus. Niemand wußte um den Raub, als ich und der letzte Abendsonnenstrahl, der neugierig über das funkelnde Gold hingeglitten war. Er erlosch, um drüben neu aufzugehen und vielleicht auf ein glückseliges Menschenangesicht zu fallen; ich aber irrte umher, und sah Nacht und Fluch und Verbrechen, wohin ich blickte!

Noch an demselben Abend hörte ich, wie Paul Hellwig zwanzigtausend Thaler und einen der Armringe beanspruchte und erhielt…

Weißt Du nun, was ich litt, während Du mich für treulos, falsch und leichtsinnig hieltest? Ich stand allein meinen zwei Peinigern gegenüber – meine strenge, aber rechtschaffene Mutter war todt, und mein einziger Bruder in fernen Landen. … Es handelte sich nicht allein mehr um meine Liebe zu Dir – ich sollte auch schweigen, unverbrüchlich schweigen vor Dir und der Welt, und dazu verstand ich mich nun und nimmer! … Hat nie Dein Herz bang und ahnungsvoll geklopft in jenen unseligen Momenten, wo ich meinem zürnenden Vater unerschütterlich fest gegenüber stand, wo er die Hand hob, um ‚die starrsinnige, entartete Tochter‘ zu Boden zu schleudern? …

Ich hatte das Testament des alten Adrian zurückbehalten – das wußten sie nicht, und als eines Abends Paul Hellwig höhnisch fragte, womit ich denn eigentlich den Fund beweisen wolle, da wies ich auf dies Papier hin – und da kam das furchtbare Ende! Mein Vater hatte Nachmittags einer großen Gasterei beigewohnt, sein Gesicht war stark geröthet, er hatte offenbar viel Wein getrunken. Bei meiner Erklärung stürzte er auf mich zu, schüttelte mich mit seinen gewaltigen Händen, daß ich aufschrie vor Schmerz, und fragte knirschend, ob mir denn seine Ehre und sein Ansehen nicht einen Pfifferling werth seien. Noch hatte er das letzte Wort nicht ausgesprochen, als er mich zurückstieß – sein Gesicht wurde dunkelbraun, er fuhr mit beiden Händen nach dem Halse und brach plötzlich wie niedergeschmettert vor mir zusammen – der große, stattliche Mann! … Er athmete noch, als wir ihn aufhoben, ja, er hatte sogar Bewußtsein, denn sein Blick ruhte unverwandt mit einem furchtbaren Ausdruck auf meinem Gesicht, und – da brach mein Widerstand, Joseph! Als der Arzt für einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, da zog ich das Papier hervor und hielt es an die Flamme des Lichtes. Ich konnte meinen Vater nicht ansehen, aber ich gelobte ihm mit weggewandtem Gesicht, daß ich schweigen wolle für immer, daß mit meinem Willen kein Flecken auf seine Ehre fallen solle… Wie lächelte Paul Hellwig teuflisch bei diesem Schwur! … O Joseph, das that ich! Ich sicherte meiner Familie das Dir gestohlene Erbe, in dem Augenblick, wo Dich der Mangel auf das Sterbebett warf!“


25.

Felicitas schlug erschöpft das Buch zu – sie konnte nicht weiter lesen. Draußen pfiff und tobte es an den Fenstern vorüber, daß sie klangen und klirrten – was war dies Brausen gegen die Stürme in der Menschenbrust, von denen das Buch erzählte!

Tante Cordula, Du bist gemartert und gekreuzigt worden! Die in dem gestohlenen Gut schwelgten, sie stellten sich auf den hohen Standpunkt angestammter Familientugend und Rechtschaffenheit; sie verstießen Dich als eine Entartete, und die blinde Welt bestätigte diesen Urtheilsspruch. Hoch droben in den Lüften standest Du, verfehmt und verlästert, und hinter den festgeschlossenen Lippen ruhte Dein Geheimniß! Du riefst nicht Wehe über die Blinden da drunten – sie aßen gar oft Dein Brod, und erfaßten unbewußt Deine rettende Hand in Noth und Elend! Dein starker Geist erbaute sich seine eigene Welt, und das stille, versöhnliche Lächeln, das im Alter Deine Züge verschönte, war der Sieg einer erhabenen Seele!

Welch’ ein Unding ist die öffentliche Meinung! Die Welt hat nichts Haltloseres, und doch darf sie tief und bestimmend eingreifen in das Schicksal der Einzelnen! Leiden nicht Familien noch nach Jahren für ein einziges Glied, das die öffentliche Stimme gerichtet und verfehmt hat, und giebt es nicht Geschlechter, die den Nimbus angestammter Tugend und Ehrbarkeit mühelos tragen, blos weil ihr Name dem Volksmund als „gut“ geläufig ist? Wie viel unbestrafte Schurkerei hat die öffentliche Meinung auf dem Gewissen, und wie oft weint das stille Verdienst unter ihren blinden Fußstößen!

Die Familie Hellwig gehörte auch zu jenen Unantastbaren. Wenn Einer gewagt hätte, den Finger aufzuheben gegen die stattlichste und stolzeste Erscheinung unter den Oelbildern der Erkerstube und zu sagen: „Das ist ein Dieb!“ – er wäre gesteinigt worden vom großen Haufen. Und doch hatte er den armen Schustersohn um sein Erbe betrogen; er war gestorben, der Ehrenmann, mit dem Diebstahl auf dem Gewissen, und seine Nachkommen waren stolz auf den „sauer und redlich erworbenen“ Reichthum des alten Handlungshauses. … Wenn Er das wüßte, wenn er einen Blick in dies Buch werfen könnte, er, der sein eigenes Wünschen derartigen „geheiligten“ Traditionen unterwarf, der so lange den Satz festgehalten hatte, nach welchem Tugend und Laster, hoher Sinn und Gemeinheit sich an die Familie und deren Stellung, nicht aber an das einzelne Individuum knüpfen sollten! …

Felicitas streckte unwillkürlich die Rechte mit dem Buch wie triumphirend in die Höhe und ihre Augen funkelten. … Was hinderte sie, diesen kleinen, grauen Kasten mit seinem furchtbaren Inhalt dort auf dem Schreibtisch liegen zu lassen? … Dann kommt er herein und setzt sich arglos in die traute, epheuumhangene Nische. Die wuchtige Stirn voll tiefer Gedanken, nimmt er die Feder auf, um an dem dort liegenden Manuscript weiter zu arbeiten. … Da steht das kleine, unbekannte Etwas vor ihm – er hebt den Deckel auf, nimmt das Buch heraus und liest – und liest, bis er todtenbleich zurücksinkt, bis die stahlgrauen Augen erlöschen unter der Wucht einer schreckensvollen Entdeckung. … Dann ist sein stolzes Bewußtsein lebenslänglich geknickt. Er trägt im Verborgenen die Last der Schande. … Will er die Annehmlichkeiten seines reichen Erbes genießen – es sind gestohlene Freuden; liest er seinen so gepriesenen Namen – es ruht ein häßlicher Flecken darauf … er ist innerlich gebrochen, gemordet für alle Zeiten, der stolze Mann! …

Buch und Kasten fielen schallend zur Erde, und ein heißer Thränenstrom stürzte aus Felicitas’ Augen. … „Nein, tausendmal lieber sterben, als ihm dies Leid anthun!“ … War der Mund, der diese Worte bebend herausstieß, derselbe, welcher einst hier, zwischen diesen vier Wänden gesagt hatte: „Ich würde es nicht beklagen, wenn ihm ein Leid widerführe, und wenn ich ihm zu einem Glück verhelfen könnte, ich würde keinen Finger bewegen!“? War das wirklich noch der alte, wilde Haß, der sie weinen machte, der ihr Herz mit unsäglichem Weh erfüllte bei dem Gedanken, er könne leiden? War es Abscheu, das süße Gefühl, mit welchem sie plötzlich seine kraftvolle männliche Gestalt vor sich heraufbeschwor, und hatte die glückselige Genugthuung, daß sie berufen sei, die Hände schützend über seinem Haupt zu halten, ihn vor einer niederschmetternden Erfahrung zu bewahren, noch etwas gemein mit dem häßlichen Gefühl der Rache? … Haß, Abscheu und Rachedurst – sie waren verlöscht in ihrer Seele! … Wehe, sie hatte ihr Steuer verloren! … Sie taumelte zurück und schlug die Hände vor das Gesicht – der geheimnißvolle Zwiespalt ihres Herzens lag gelöst vor ihr, aber nicht unter jenem Licht einer himmlischen Erkenntniß, das plötzlich ungeahnte, lachende Gefilde bestrahlt – es war ein grelles Wetterleuchten, in welchem ein Abgrund zu ihren Füßen sichtbar wurde. …

Fort, fort – es hielt sie nichts mehr! Noch einmal den

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