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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

die kein fremder Blick fallen durfte! er hatte sie sorglos, ohne Arg offen liegen lassen, denn er trug ja den Zimmerschlüssel in der Tasche – das junge Mädchen flog wie gejagt nach dem Glasschrank.

Auf der Seitenwand des alten Möbels, inmitten einer geschnitzten, seltsam verschnörkelten Arabeske befand sich ein feiner, für ein uneingeweihtes Auge kaum erkennbarer Metallstift. Felicitas berührte ihn mit festem Druck, und die Thür des Geheimfaches sprang auf. Da standen und lagen die vermißten Kostbarkeiten in wohlbekannter Ordnung! Die weitgebauchten silbernen Kaffee- und Milchkannen, die mit seidenen Bändern zusammengebundenen, schweren Löffelpakete, die altmodischen Etuis mit dem Brillantschmuck, alle diese Dinge befanden sich genau auf demselben Platz, den sie seit vielen Jahren im tiefen Dunkel der Verborgenheit eingenommen hatten … und dort in der Ecke stand die Schachtel mit dem Armring, daneben aber – der kleine, graue Kasten in schräger Stellung, wie ihn die alte Mamsell vor wenig Wochen hastig hingeschoben – sie hatte ihn offenbar nicht wieder berührt.

Felicitas nahm ihn mit bebenden Händen heraus – er war nicht leicht – sterben sollte sein Inhalt, aber auf welche Weise? Wie war er beschaffen?

Sie hob vorsichtig den Deckel – ein plumpgearbeitetes, in Leder gebundenes Buch lag darin – die starren Blätter klafften auseinander, und der Einbanddeckel hatte sich im Lauf der Zeit aufwärts gekrümmt. Ein scheuer Blick belehrte das junge Mädchen, daß dies grobe Papier da drinnen nicht bedruckt, sondern vollgeschrieben sei.

Tante Cordula, da ruhen zwei Augen auf deinem Geheimniß – zwei Augen, in denen du unzählige Mal treue, kindliche Liebe und Hingebung gelesen hast, und ein junges Herz, das nie an dir gezweifelt, steht hastig klopfend vor dem Räthsel deines Lebens! Es ist von deiner Schuldlosigkeit so unerschütterlich fest überzeugt wie von dem Dasein der leuchtenden Sonne, aber es will wissen, wofür du littest; es will die Größe deines lebenslänglichen Opfers in seinem ganzen Umfang ermessen können… Dein Geheimniß soll sterben; diese Blätter werden zu Asche zerstieben, und der Mund, der schon in zarter Kindheit unverbrüchlich zu schweigen verstand, wird es so fest verschließen wie der deine!

Die zitternden Finger des jungen Mädchens schlugen den Deckel zurück. „Joseph von Hirschsprung, Studiosus philosophiae“, stand in kräftigen Zügen auf dem ersten Blatt… Es war das Tagebuch des Studenten, des adligen Schustersohnes, um dessen willen Tante Cordula ihren Vater buchstäblich zu Tode geärgert haben sollte. Der Schreiber hatte stets nur die erste Seite eines jeden Blattes beschrieben und die Rückseite desselben, ohne Zweifel zu Anmerkungen, freigelassen. Diese Blattseiten aber zeigten in dicht gedrängten Reihen die feinen, zierlichen Schriftzüge der alten Mamsell.

Felicitas las den Anfang. Tiefe, originelle Gedanken, mit einer seltenen Kraft und Knappheit zum Ausdruck gebracht, fesselten sofort das flüchtige Auge und zwangen zum Nachdenken. Es mußte ein wunderbarer Mensch gewesen sein, dieser junge Schustersohn, mit der Phantasie voll grandioser Bilder, mit dem tiefeinschneidenden Urtheil und dem feurigen Herzen voll leidenschaftlicher Liebe! … Und darum hatte ihn auch Cordula, die Tochter des gestrengen Kauf- und Handelsherrn, geliebt bis in den Tod. Sie schrieb:

„Du schlossest die Augen für ewig, Joseph, und hast nicht gesehen, wie ich vor Deinem Lager kniete und mir die Hände wund rang im Gebet zu Gott, daß er Dich mir erhalten solle. Du riefst meinen Namen in der Wuth des Fiebers unaufhörlich mit dem süßen Schmeichellaut der Liebe, aber auch in zürnenden Tönen eines tiefverwundeten Herzens, mit dem Aufschrei einer wilden Rache, und wenn ich zu Dir sprach, da starrtest Du mich fremd an und stießest meine Hand zurück.

Du bist von hinnen gegangen in dem Wahn, daß ich meinen Schwur gebrochen habe – und als Alles vorüber war und sie Dich hinweggenommen hatten von Deinem Schmerzenslager, da fand ich dies Buch unter Deinem Kopfkissen. Es sagt mir, wie ich geliebt worden bin; aber Du hast auch an mir gezweifelt, Joseph! … Nur noch auf einen einzigen bewußten Blick wartete ich in Todesangst – er hätte Dich überzeugen müssen, daß ich schuldlos war, und mein trostloses Geschick hätte seinen schärfsten Stachel verloren – vergebens! … Ein Auseinandergehen für immer, ohne Versöhnung zwischen den scheidenden Seelen – es giebt keine größere Seelenmarter! Und wenn ich die schwersten Verbrechen begangen hätte, ich könnte nicht grausamer gestraft werden, als mit diesem Herzen, das Tag und Nacht aufschreit und mich ruhelos umherjagt, wie den flüchtigen Kain!

Dein großer Geist stürmt jetzt weiter auf ungemessenen Bahnen, ich aber wandere noch über die arme, kleine Erde und weiß nicht, ob Dir ein Zurückblicken möglich… Ich darf mit Niemand über meine inneren Stürme sprechen, und ich will auch nicht; denn wo wäre ein Mensch, der meinen Verlust begriffe? Es hat Dich Keiner gekannt, als ich! … Aber einmal muß es noch ausgesprochen werden, wie Alles kam. In diesem Buch hast Du Deine Gedanken niedergelegt; allein so kühn und gewaltig sie sind, nebenher geht ein süß erquickender Hauch tiefer, unsterblicher Liebe zu mir, Joseph. Das Alles spricht zu mir, wie mit lebendigem Athem und Deiner sympathischen Stimme … ich will Dir antworten, hier auf denselben Blättern, wo Deine Hand geruht hat, und will denken, Du stehest neben mir und Deine tiefen Augen verfolgen die Feder, wie sie Zug um Zug hinzeichnet, bis das Räthsel gelöst vor Dir liegt!

Weißt Du noch, wie die kleine Cordula Hellwig ihr weißes Lieblingshuhn, das der Jagdhund verscheucht hatte, auf dem Hausboden suchte? Es war dunkel da droben, aber durch eine Bretterritze floß es golden, und die Sonnenstäubchen spielten zu Milliarden in der Lichtsäule. Das kleine Mädchen lugte durch die Ritze. Da drüben hatte Nachbar Hirschsprung eben die Frucht seines einzigen Ackers eingeheimst, und hoch auf den gelben Garben saß der wilde, schwarze Joseph und schaute durch die Dachluke.

‚Such’ mich doch!‘ rief das Kind durch die Spalte. Der Knabe sprang herab und sah sich trotzig um. ‚Such’ mich doch!‘ klang es wieder. Da geschah ein Krach und eines der Bretter, hinter welchen die kleine Cordula steckte, fiel polternd herein auf den Dachboden des vornehmen Nachbarhauses… Ja, so warst Du, Joseph! und ich weiß, Du würdest späterhin genug der unwürdigen Schranken in der Menschenwelt und manches mühsam erbaute falsche System genau so zertreten haben, wie das Brett, hinter welchem Du geneckt wurdest.

Ich weinte bitterlich vor Schreck, und da warst Du plötzlich ganz sanft und unsäglich gut und führtest mich hinunter in das enge, räucherige Schusterstübchen… Die Bretterwand wurde wieder hergestellt; seit der Zeit aber wanderte ich täglich über die Straße und besuchte Dich… Ach, was waren das für Winternachmittage! Draußen stöberte und stürmte es um die Wette; der Rosmarinstock auf dem Fenstersims zitterte bei jedem Windstoß, der an den runden, bleigefaßten Scheiben vorüberbrauste, und der sonst so beherzte Stieglitz klammerte sich an die innere Wand seines Bauers. Auf dem riesigen Kachelofen brodelte der Kaffeetopf; Deine ehrbare Mutter saß am schnurrenden Spinnrad und spann Hanf, und der Vater hämmerte tapfer auf seinem Schemel und verdiente das tägliche Brod.

Ich sehe noch sein edles, melancholisches Gesicht vor mir, wenn er erzählte von vergangenen Zeiten. Da waren die Hirschsprungs ein gewaltiges, berühmtes Geschlecht gewesen, ein tapferes Hünengeschlecht von riesiger Körperkraft! Welch’ eine unabsehbare Reihe von Heldenthaten hatte ihr starker Arm ausgeführt! Aber mir graute vor den Strömen edlen Menschenblutes, das sie vergossen – ich hörte viel lieber die Geschichte von dem Ritter, der sein junges Weib so herzlich und treu geliebt hatte. Er ließ zwei Armringe machen, und auf jedem stand die Hälfte eines Liebesverses eingegraben; den einen Ring trug er, den anderen sein trautes Gemahl… Und als er in der Schlacht todeswund zu Boden stürzte, da kam ein räuberischer Kriegsknecht und wollte ihm das kostbare Liebeszeichen entreißen; aber der Sterbende preßte krampfhaft seine Linke auf das Kleinod – er ließ sich die Hand verstümmeln und zerhauen, bis sein Knappe zu Hülfe eilte und den Räuber niederschlug… Die Armringe wurden in der Familie als Reliquien aufbewahrt, bis – ja bis die Schweden kamen… Wie haßtest Du damals diese Schweden, Joseph! Sie sollten ja schuld sein an dem Untergang Derer von Hirschsprung… Das war eine tieftraurige Geschichte, und ich mochte sie schon um deshalb nicht hören, als Dein Vater jedesmal sagte: ‚Siehst Du, Joseph, wenn das Unglück nicht geschehen wäre, da könntest Du studiren und ein großer Mann werden – so aber

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