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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Verbrecher in festverschlossene Räume zu dringen, schüttelte sie sich stets vor Abscheu und Aufregung; dies Lauern auf den ersten unbewachten Moment, wo der ahnungslose Bewohner sich entfernt haben würde, war ihr entsetzlich. Nichtsdestoweniger behielt sie ihr Ziel fest im Auge und es konnte sie plötzlich ein heißer Angstschauer überlaufen, wenn ihr einfiel, daß die Zeit, welche ihr noch zur Erfüllung ihrer Aufgabe verblieb, bereits auf zwei Wochen zusammengeschmolzen war.

Endlich waren die Regentage vorüber. Ein Stück klaren, blauen Himmels hing über dem Viereck des Hofes, der Lattich trocknete seine gründlich gewaschenen Blätter in einem herbkräftigen, frischen Lufthauch, emsig flogen die Schwalben, deren zahllose Nester an den Dächern und Fenstersimsen der Gebäude hingen, aus und ein, und ihr kleiner, blauer Rücken funkelte förmlich in dem neuen, warmen Sonnenlicht. Das war ein Tag, der in’s Freie lockte. Vielleicht wurde heute draußen im Garten gegessen, und dann – war der Weg über die Dächer frei. Diese Hoffnung Felicitas’ erfüllte sich jedoch nicht. Gleich nach Tische kam Rosa an das Bogenfenster und brachte ihr die Weisung, mit Aennchen in den Garten zu gehen, der Herr Professor habe es dem Kinde versprochen. Später werde die Herrschaft nachfolgen und das Abendbrod draußen einnehmen.

Da schritt nun Felicitas, die kleine Anna an der Hand, „auf Befehl“ durch den einsamen Garten. Statt der Dachziegel oder des Bretterfußbodens der luftigen Galerie hatte sie den Kies der sonnenbeschienenen Gartenwege unter den Füßen … Während der Regenzeit hatten Tausende von Rosen ihre Kelche geöffnet. Auf dem eleganten Rasenrund des Vordergartens standen hohe Stockrosen, der dunkle Sammet ihrer Blüthen schwebte hoch und unnahbar über den demüthigen Gräsern, wie ein Königspurpur über dem Volke, aber im Gras- und Gemüsegarten, da war das niedrige Centifoliengesträuch minder vornehm, die prachtvollen, strotzenden Kelche mit dem glührothen, süßen Mund wiegten sich zutraulich neben dem dickköpfigen Kohlrabi, und ihr berauschender Duft floß mit dem kräftigen, aber gemeinen Geruch der Dill- und Schnittlauchbeete ineinander.

Felicitas strich mit gesenktem Haupt an der Blüthenpracht vorüber und das gutmüthige Kind schwankte schwerfällig nebenher, der kleine Mund schwieg, kein Geplauder störte das Nachsinnen des jungen Mädchens. Sie dachte mit einer Art von wildem, brennendem Schmerz an die Rosenzeit vergangener Jahre – da hatten die Rosen doch anders geleuchtet und geduftet, als Tante Cordula’s klare, liebestrahlende Augen noch nicht erloschen waren, als sie noch in stillen Sonntagnachmittagsstunden, neben der bewegungslos aufhorchenden Schülerin im Vorbau sitzend, mit ihrer ausdrucksvollen Stimme begeistert aus den Classikern vorlas, während von der Galerie die betäubenden Duftwogen hereinquollen, und weit draußen das grüne Thüringer Land sich hinstreckte … Da war auch allmählich das süße Heimathgefühl in der Seele des jungen Mädchens gewachsen, sie hatte sich zu Hause gewußt in den friedlich trauten Räumen, beschützt und geleitet von einer treumütterlichen Liebe; sie war, wenn auch nur auf Stunden, frei gewesen, ungefesselt in ihren Bewegungen, in den Anschauungen und Betrachtungen, die sich auf ihre Lippen drängten – darum wohl auch hatten die Rosen anders geleuchtet und geduftet, und die Welt war sonniger gewesen …

Sie hob den Kopf und sah über den Zaun in den Nachbargarten. Dort schimmerte das weiße Häubchen der Hofräthin Frank. Die alte Dame saß mit ihrem Sohn am Kaffeetisch, er las ihr vor, während sie, behaglich in einen Fauteuil zurückgelehnt, die blitzenden Stricknadeln durch ihre Finger gleiten ließ. Das sah auch heimisch und friedlich aus. Felicitas sagte sich selbst, daß sie auch unter jenen Menschen in einem gewissen Grad frei sein werde, daß sie im Verkehr mit ihnen, die so human und hochgebildet, geistig fortschreiten müsse, auf keinen Fall war sie in den neuen Verhältnissen der Automat, der „auf Befehl“ gehen und die Hände rühren mußte, während Augen und Lippen nie das Vorhandensein eines lebhaften, selbstständigen Geistes verrathen durften.

Trotz dieser Gedanken wurde es nicht heller in ihr. Es hatte schon vor Tante Cordula’s Tode ein Etwas in ihrer Seele gelegen, über das sie selbst nicht klar werden konnte – eine dunkle Qual, die bei näherer Besichtigung zurückwich, wie ein Phantom – nur Eines stand fest: diese Stimmung hing mit der Anwesenheit ihres einstigen Peinigers zusammen. Wohl war sie vor seiner Ankunft der Ueberzeugung gewesen, seine persönliche Erscheinung werde ihren Groll, ihre Erbitterung noch verschärfen, aber daß diese Empfindungen so mächtig und in fast räthselhafter Weise verdunkelnd auf ihr ganzes übriges Seelenleben zurückwirken würden, das hatte sie nicht geahnt.

Dann und wann drang die erhobene Stimme des Vorlesers über den Zaun herüber – es lag viel Wohllaut in diesen Klängen, aber sie besaßen doch nicht das Markige, die Modulation, welche das einst so eintönige Organ des Professors mit den Jahren in so auffallender Weise angenommen hatte … Felicitas schüttelte unwillig den Kopf und warf ihn zurück – woher kam ihr nur der Vergleich? … Sie zwang ihre Gedanken sofort in eine andere Bahn, auf ein Thema, das allerdings nahe lag, und welches seit der Testamenteröffnung sehr oft Gegenstand ihres Nachdenkens war. Das Gericht hatte den Rechtsanwalt Frank zum Curator für die muthmaßlich existirenden Hirschsprung’schen Erben ernannt. Seit zwei Tagen bereits durchlief ein Aufruf die Zeitungen; Felicitas harrte mit einer fast leidenschaftlichen Spannung auf den Erfolg – ihr brachte er möglicherweise bittere Schmerzen. Meldete sich die Familie Hirschsprung in Kiel auf diesen Aufruf, der eine reiche Erbschaft verhieß, so bestätigte sich die Vermuthung, daß die Spielersfrau eine Ausgestoßene gewesen war … Was aber mußten das für Menschen sein, in deren Augen ein Familienglied selbst durch ein so tragisches, erschütterndes Ende nicht hatte entsühnt werden können! Felicitas knüpfte deshalb nicht einen einzigen hoffenden Gedanken an das mögliche Auftreten naher Anverwandten; sie wollte ihnen gegenüber auch nie das Dunkel der Verborgenheit verlassen, dennoch schlug ihr Herz heftig bei der Vorstellung, daß ein Tag kommen könne, wo die grausamen Großeltern ahnungslos dem schweigenden Enkelkind begegnen würden.

Die Hofräthin Frank hatte Felicitas am Zaun bemerkt. Sie stand auf und kam in Begleitung ihres Sohnes herüber. Beide begrüßten das junge Mädchen sehr herzlich, und der Rechtsanwalt sprach seine Freude darüber aus, demnächst als Hausgenosse mit ihr verkehren zu dürfen. Damit leitete er leicht und ungezwungen ein längeres Gespräch ein. Den formgewandten Weltmann überkam es fast wie eine ungewohnte Verlegenheit dem tiefernsten Mädchen gegenüber, das so ruhig und unbefangen in sein Auge sah und in merkwürdig klarer und bestimmter Weise ungewöhnliche Gedanken zum Ausdruck brachte. Sie unterhielten sich lange und eingehend, und das Gespräch berührte die verschiedenartigsten Themen. Schließlich erkundigte sich die Hofräthin auch nach Aennchen. Felicitas nahm das Kind auf den Arm und deutete mit frohem Lächeln auf den Anhauch einer frischen, gesunden Röthe, welcher die früher so fahlen Wangen der Kleinen bedeckte.

Beim Auseinandergehen reichte die alte Dame Felicitas die Hand; auch ihr Sohn streckte die Rechte über den Zaun herüber, und das junge Mädchen legte unbedenklich und freundlich die ihre hinein … In dem Augenblick knarrte die Gartenthür und der Professor trat auf die Schwelle. Er blieb einige Secunden wie angewurzelt stehen, dann griff er langsam nach dem Hut und grüßte herüber – Felicitas sah, wie ihm eine jähe, tiefe Röthe über das Gesicht flog … Der Rechtsanwalt öffnete die Lippen, um ihn anzurufen, aber er wandte rasch den Kopf nach der entgegengesetzten Seite und ging in das Gartenhaus.

„Nun, das war wieder einmal ein echter, zerstreuter Professorengruß!“ sagte der junge Frank lachend zu seiner Mutter. „Der gute Johannes hat offenbar irgend einen unglücklichen Patienten in effigie unter dem Messer, und in solchen Augenblicken kennt er seine besten Freunde nicht!“

Mutter und Sohn kehrten an den Kaffeetisch zurück, und Felicitas suchte Schutz und Schatten im Grasgarten.




22.

Die riesigen grünen Schirme des Taxus waren eine vortreffliche Schutzmauer gegen die Sonne, den Wind, welcher seit Kurzem ziemlich heftig über den weiten Kiesplatz fegte – und gegen strafende Blicke, die möglicherweise aus dem Gartenhaus herüberfliegen konnten … Felicitas kannte das Gesicht des Professors viel zu gut, um nicht zu wissen, daß er vorhin ärgerlich und gereizt, nicht aber zerstreut gewesen war; sie meinte sogar, auch den

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_499.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)