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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Insel mit angesehen hatten. Es war an der gemeinsamen Mittagstafel, an welcher auch die Schülerinnen und Lehrerinnen theilnahmen; der Junge, ein überaus frecher Bengel von etwa fünfzehn Jahren, hatte ein ungenießbares Stück Beefsteak bekommen, welches er, zum Ergötzen der Schüler auf der Gabel hoch emporhielt, indem er dazu an dieselben eine aufrührerische Rede losließ, als ich, weil er auf alle Ermahnungen des Directors und der Lehrer zur Ruhe nicht stillschwieg, zur Execution herzugeholt wurde. Er entwickelte eine hinreißende Beredsamkeit. Er erinnerte seine Cameraden an alle die ledernen Roastbeefs, die halbverbrannten Muttonchops (Schöpsenfleisch-Schnitte), die verdächtig duftenden Stücken Suppenfleisch, die versalzenen Gemüse, die faulen Kartoffeln, an all’ das unausgebackene Brod und an den homöopathisch-verwässerten Kaffee, deren Verdauung man ihren unschuldigen, noch unverdorbenen Mägen zumuthe, und schloß jeden Satz mit dem Ausruf: ceterum censeo Carthaginem esse delendam! auf gut Englisch: solch’ Futter gehört den Schweinen! – Es war eine Scene zum Malen, nicht zum Beschreiben. Durch den tobenden und jubelnden Aufruhr von mehr als hundert Jungen und Mädchen hindurch, welche offenbar alle mehr oder weniger mit dem Redner sympathisirten, kreischten die Lehrerinnen, brüllten die Lehrer, ächzte der hülf- und rathlose Director, welcher vergebens zu Worte zu kommen suchte, während die Frau Directorin in Ohnmacht lag. Ich selbst mußte mir die Verwirrung eine Weile mit ansehen, ehe ich mir klar wurde, was hier zu thun sei. Wäre ich mit Gewalt eingeschritten, so hätte mir’s der Director am Ende selbst schlechten Dank gewußt, weil dadurch seine Anstalt zu Grunde gehen konnte. Ich bahnte mir also einen Weg bis gegenüber dem verwegnen Redner und sah ihn eine halbe Minute lang mit vernichtenden Blicken an. Das allein hatte schon genügt, Todtenstille herzustellen. Jetzt öffnete ich die Schleußen meiner Beredsamkeit. Es war das erste Mal, daß ich zusammenhängend Englisch zu reden versuchte; aber der große Moment verlieh mir, wie den Aposteln beim Pfingstfeste, Sprachengabe.

‚Was glaubst du wohl, mein Sohn,‘ rief ich mit einer dröhnenden Donnerstimme, vor welcher Alt und Jung erzitterte, ‚daß Plato in seiner Akademie gethan hätte, wenn ihm solch’ ein Bürschchen wie du die Zucht der Anstalt gestört hätte? (Lange Pause.) Oder was würden wohl die alten Lakedämonier gethan haben, wenn solch’ ein halbwüchsiger Junge laut erklärt hätte, daß die schwarze Suppe vor die Schweine gehöre? (Noch längere Pause.) Oder was für eine Strafe würde wohl der alte sittenstrenge Cato dem Römerjüngling verordnet haben, der seinem Schulmeister den Gehorsam aufgekündigt und seine Mitschüler zum Aufruhr gegen die Schulgesetze verleitet hätte? (Sehr lange Pause.) Die Antwort überlasse ich euch Allen selber. Jetzt aber verschwinde in weniger als keiner Zeit! Fort zur einsamen Haft auf dein Zimmer, bis dein Lehrer dich wieder herausläßt! Fort!‘

Das wirkte zauberhaft. Die Schüler hatten indeß alle schon wieder ihre Plätze eingenommen; der Sünder wankte lautlos der Thüre zu, und der Director hatte Sprache und Zuversicht wiedergewonnen. Ich selbst entfernte mich mit großen Schritten, um dem Director ausschließlich die Zügel der Ordnung zu überlassen, und wiederholte auf meinem Zimmer die gehaltene Rede leise mehrere Male, um mich zu vergewissern, daß ich auch mustergültiges Englisch gesprochen habe. Das mußte auch der Fall gewesen sein, da auch der Director es mir versicherte, welcher bald darauf zu mir kam. Er war mit mir so zufrieden, daß er mir eine Stellung als Lehrer der classischen Sprachen an seiner Anstalt bot bei doppeltem Ushergehalte.

Wer war froher als ich, einen passenden Wirkungskreis gefunden zu haben? Keine Stellung ist so sehr wie die eines Lehrers geeignet, rasch die Landessprache gründlich zu erlernen, keine auch giebt mehr Gelegenheit, vortheilhafte Bekanntschaften zu erwerben und mit der Wissenschaft im Zusammenhang zu bleiben. Aus diesen Gründen blieb ich an dieser Anstalt mehrere Jahre, während deren ich nur Kenntnisse und Geld genug einsammelte, die ich später gut verwerthen konnte. Ich brauche aus diesem Abschnitte meiner Lebensgeschichte blos noch das Eine zu erwähnen daß ich fleißig, theils aus Büchern, theils bei sachverständigen Lehrern Physik und Chemie studirte und deshalb den Unterricht in diesen Wissenschaften an der Anstalt überkam. Auch die Mädchen mußten daran theilnehmen. Es waren das halb- und ganz erwachsene hübsche Dinger von dreizehn bis siebzehn Jahren, von denen aber keine einen lebhafteren Antheil an diesem Unterrichte nahm. Wenn ich ihnen Quecksilber auf einen Teller ausgoß und die Kügelchen hin- und herrollen ließ, um ihnen die Natur des Metalles durch eigene Anschauung kennen zu lehren, da riefen sie wohl: ‚ach, wie hübsch! – gerade wie ein Haschemannsspiel!‘ – Wenn ich ihnen die Natronflamme und ihr Spectrum mittels verbrennenden Kochsalzes zeigte, da meinte Jenny, solch’ eine Farbe liebe sie für ihren Strohhut, und Lisbeth hätte lieber ein seidenes Kleid von dieser Couleur gehabt. Wenn ich Kaliumkügelchen auf Wasser warf und sie tanzten darauf unter Selbstentzündung, so meinte Ellen: es gehe ihr beim Tanzen ebenso, sie würde warm, besonders wenn der Tänzer ein hübscher Junge wäre; aber bis zum Feuerfangen hätte sie’s doch noch nicht gebracht. Wenn ich dann wiederholte und das Atomgewicht des Quecksilbers und seine verschiedenen Mischungsverhältnisse wissen wollte, oder die Zusammensetzung des Kochsalzes, oder die häufigst vorkommenden Kalium-Verbindungen, da fing bald die Eine, bald die Andere verstohlen an zu gähnen, oder zum Fenster hinauszusehen, oder sonst Allotria zu treiben, und Juliet, eine überreife starke Brünette, rief einmal ganz naiv aus: ‚Aber, Herr Professor, warum fragen Sie uns das Alles? Sie wissen das ja doch selber viel besser als wir unwissenden Dinger.‘ Und sie sagte es obendrein in einem so gutmüthig neckischen Tone, daß man ihr nicht gram werden und sie strafen konnte. Nun können Sie denken, wieviel diese Mädchen ungefähr Fortschritte in der edlen Naturwissenschaft gemacht haben mögen. Nur Eine war darunter – eine echte Yankeein, nicht schön, aber fesselnd durch sittiges und sinniges Wesen und ein seelenvolles, gescheidtes Auge – die paßte auf, als wenn die ewige Seligkeit davon abhinge. Die lernte wunderbar. Sie war auch ausgezeichnet im Lateinischen und Griechischen, in Geschichte und Geographie, kurz in Allem, was ich zu lehren hatte. Die Eine war schuld, daß ich mich als Lehrer dieser Mädchenclasse ganz außerordentlich anstrengte und wirklich Ansehnliches leistete, so daß der Director meinem Gehalte fort und fort zulegte, wenn ich nur die entfernte Möglichkeit meines Weggehens durchblicken ließ. Larifari! Ich wäre von ihm nie weggegangen, solange Harriet dablieb. Und – merkwürdig – auch Harriet schien gar nicht an’s Abgehen denken zu wollen, obschon ihre akademische Laufbahn beendet war und sie den obersten Cursus unnöthigerweise ein zweites Mal mit durchmachte.

Das öffnete mir die bis dahin blöden Augen, und ich faßte mir ein Herz und redete die Augensprache mit ihr. Und als sie auch darin so sehr als Meisterin sich erwies, daß ich zuletzt immer verstummen, d. h. meine Augen vor den ihrigen niederschlagen mußte, wenn diese in vollem Glanze auf mir ruhten, da ging mir die jubelnde Gewißheit auf, daß dies eine Lebensgefährtin für mich werden könnte und müßte – und heute ist sie’s; sie ist es geworden nach jahrelanger Trennung und seltsamen Schicksalen beiderseits. Sie ist ihrem damals mir gegebenen Gelübde treugeblieben trotz der heftigen Widerrede ihres Vaters, der in mir zugleich den Fremdgebornen, den Unkirchlichen, den Revolutionär und den Sclavereifeind haßte. Sie ist mein treues Weib geworden, trotzdem daß ihr Vater sie enterbte und mein damaliges Loos nichts weniger als glänzend war. Denn meine Farmerlaufbahn im nördlichen Missouri war besonders während des Unionskriegs eine höchst dornenvolle. Bald nach dem Anfange dieses Krieges verbrannten mir meine Rebellennachbarn Haus und Hof über dem Kopfe, eben als ich soweit eingerichtet war, daß ich meine Braut heimführen zu können glaubte. Ich baute mir sofort eine neue Blockhütte, als ich von dem gegen die Buschklepper unternommenen Rachezuge siegreich zurückgekehrt war, und fragte dann brieflich bei ihr an, ob sie nicht lieber mit dem Kommen warten wollte, bis ich besser eingerichtet, und die Zeiten ruhiger geworden wären. Sie kam statt aller Antwort selber, um meine Gefahren und schweren Arbeiten beim Wiedereinrichten meiner ganz verwüsteten Farm zu theilen. ‚Wenn Du,‘ sagte sie zu mir, ‚für unser gemeinsames Vaterland kämpfst und duldest, so steht es mir, einer Eingebornen, schlecht an, hinter Dir zurückzubleiben.‘ Dann diente ich drei Jahre in der Miliz und konnte in dieser ganzen Zeit nur drei oder vier Male auf Urlaub bei ihr sein. Indessen verwaltete sie meine Farm mit Hülfe zweier flüchtiggewordener Negersclaven, ja, sie bewährte bei mehreren Lebensgefahren, wie die steten Glückwechsel dieses Hinterwaldkrieges sie mit sich brachten, eine wunderbare Geistesgegenwart und Entschlossenheit. Einst

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