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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

darin. Der Zugwind hatte einen kleinen zerrissenen Papierfetzen in die Heerdecke geweht. Felicitas hob ihn auf. „Johann Sebastian Bach’s eigenhändig geschriebene Partitur, von ihm erhalten zum Andenken im Jahre 1707. Gotthelf von Hirschsprung.“ las sie mit überströmenden Augen… Das war das letzte Ueberbleibsel des geheimnißvollen Manuscriptes – die Melodieen waren verstummt für ewig!

Allem Anschein nach hatte Frau Hellwig anfänglich nicht die Absicht gehabt, um des Todesfalles willen die Vergnügungsreise ihres Sohnes zu unterbrechen, aber nach der Versiegelung, von der sie sehr echauffirt, mit einem unglaublich grimmigen, verbissenen Gesicht zurückgekehrt war, warf sie hastig einige zurückrufende Zeilen auf das Papier. Bereits am Tage nach der Beerdigung sollte, dem letzten Willen der Verstorbenen gemäß, das Testament eröffnet werden. Zu diesem Act brauchte Frau Hellwig eine Stütze, sie war überhaupt fassungslos wie noch nie in ihrem Leben. Der mögliche Verlust eines bedeutenden Vermögens, das sie stets für unverlierbar gehalten, wirkte in seiner Schreckgestalt selbst deprimirend auf ihre eisernen Nerven.

Ein eigentliches Ziel hatte sich die Reisegesellschaft nicht gesteckt. „Eine Reise in’s Blaue hinein, und wo es uns gefällt, wollen wir Hütten bauen,“ hatte das Programm gelautet; Frau Hellwig mußte demnach ihren Brief auch ziemlich in’s Blaue hineinschicken… Das Suchen, mit welchem sie in der Mansardenwohnung den Tag begonnen hatte, wurde nun im Zimmer ihres verstorbenen Mannes fortgesetzt. Unter den Familienpapieren mußten sich die Beweise finden, daß der alten Mamsell nicht das Recht zugestanden habe, eigenmächtig über ihren Nachlaß zu verfügen. Sie hatte möglicherweise Ersparnisse von ihren Zinsen gemacht, das war bereits gestern Abend Frau Hellwig’s Vermuthung gewesen – das Thürschloß der Vogelstube hatte wacker seine Schuldigkeit gethan und auch dies Capital der Familie erhalten. … Wie die große Frau auch sann und grübelte, sie wußte sich selbst nicht mehr zu sagen, woher ihr jene Ueberzeugung, die sie viele Jahre hindurch unumstößlich festgehalten, gekommen war. Hatte sie die Verfügung von Cordula Hellwig’s Vater einst selbst gelesen, oder war es die mündliche Ueberlieferung irgend einer glaubwürdigen Person – genug, überzeugt war sie noch, und die Papiere mußten sich finden… Sie suchte und las, bis ihr leichte Schweißperlen auf die blasse Stirn traten – es war heute ein wahrer Unglückstag – ihre Forschungen waren ebenso erfolglos, wie die von heute Morgen… Das Glück schüttet am liebsten kaltherzigen, berechnenden, phantasielosen Menschen seine Rosen vor die Füße – scheint es doch, als wähne es bei reich angelegten Naturen seine Schätze minder sicher, als bei solchen, die nicht allein am Geldkasten, sondern auch vor der Seele eiserne Riegel haben. … Die große Frau war eines jener verwöhnten Glückskinder – sie war daher sehr verwundert über den heutigen Unglückstag.

Zwei Tage waren vergangen, der abgesandte Brief irrte wahrscheinlicherweise noch wohlverpackt in der Postkutsche durch die grünen Thäler des Thüringer Waldes, und die alte Mamsell wurde zur Erde bestattet, ohne daß ein Träger des Hellwig’schen Namens hinter ihrem Sarg geschritten wäre.

Felicitas trug ihren tiefen Schmerz schweigend, mit jener Selbstbeherrschung, die groß angelegten Charakteren eigen. Die Schwäche, welche Trost im Zureden Anderer sucht, kannte sie nicht – seit ihrer Kindheit war sie gewöhnt, alles Schwere mit sich allein auszukämpfen und ihre Seelenwunden ausbluten zu lassen, ohne daß ihre nächste Umgebung das Vorhandensein derselben ahnte. Sie hatte es grundsätzlich vermieden, die Todte noch einmal zu sehen. Der letzte bewußte Blick der Sterbenden, der noch einmal auf ihr geruht, war für sie der Abschied gewesen – sie wollte das liebe Gesicht unbeseelt nicht in ihre Erinnerung aufnehmen… Aber am Nachmittag des Begräbnißtages, als Frau Hellwig ausgegangen war, nahm sie einen der Schlüssel, die in der Gesindestube hingen; er schloß den Corridor, in welchen die dem Leser bekannte Rumpelkammer mündete. Die mit den Jahren so bedeutend zunehmende Corpulenz der Hausfrau ließ sie alles Treppensteigen möglichst vermeiden, aus dem Grund hatte die alte Köchin schon seit länger ungehindert Zutritt in die am höchsten gelegenen Räume.

Tante Cordula sollte und mußte heute noch frische Blumen auf ihren Grabhügel haben, aber nur solche, die sie selbst gepflegt hatte. Die Mansardenwohnung war, mit Ausnahme der Vogelstube, versiegelt – auf diesem Weg konnte man mithin nicht zu dem hängenden Garten gelangen, den die Nachlässigkeit des Justizbeamten von aller menschlichen Pflege abgeschnitten hatte… Nach neun Jahren zum ersten Mal wieder stand Felicitas am Fenster der Dachkammer und sah hinüber nach dem blumenbedeckten Dach… Was Alles lag zwischen jenem unglückseligen Tag, wo ihre gemißhandelte Kinderseele sich gegen Gott und die Menschen empörte, und heute! Dort drüben war ihr Heim – dort hatte die Einsame das geächtete Spielerskind beruhigend an ihr großes edles Frauenherz genommen und mit allen Waffen ihres Geistes den Mordversuch auf seine Seele abgewehrt. Dort hatte das Kind unermüdlich gelernt und infolge dieses Lernens erst wahrhaft gelebt… Er, der in diesem Augenblick in schöner Damengesellschaft genießend die prächtigen Thüringer Wälder durchstreifte – er ahnte nicht, daß sein einstiger auf Vorurtheil und finster zelotischer Anschauungsweise basirter Erziehungsplan einzig an einigen wagehalsigen Schritten über die zwei schwanken Rinnen da unten gescheitert war.

Und jetzt sollte dieser Weg noch einmal zurückgelegt werden. Felicitas stieg aus dem Fenster und schritt über die Dächer; sie kam rasch und leicht hinüber und hatte bald den ebenen Boden der Galerie unter ihren Füßen… Die armen Dinger da, die so harmlos mit den Köpfchen im leisen Zugwind nickten, waren weit schlimmer d’ran als die Lilien auf dem Felde. Wie durch ein Zauberwort hoch in den Lüften festgehalten, wußten sie nichts von der süßen, warmen Muttererde, nichts von dem starken Heimathboden, der die Grundvesten mächtiger Bäume wie das zarte Wurzelgefaser der kleinsten Blume sich fest in das Herz drückt – ihr Wohl und Wehe hatte in den zwei kleinen, weißen, welken Händen gelegen, die jetzt selbst still in dem Heimathboden ruhten und zu Erde wurden. Noch fühlten indeß die Herausgesperrten ihre Verwaisung nicht, es hatte mehrere Mal zur Nachtzeit stark geregnet – in diesem Augenblick blühten und dufteten sie um die Wette.

Felicitas drückte ihr Gesicht gegen die Scheiben der Glasthür und sah hinein in den Vorbau. Da stand der kleine, runde Tisch; das Strickzeug mit einer halb abgestrickten Nadel lag neben dem Knäuelbecher als sei es eben nur aus der Hand gelegt worden, um im nächsten Augenblick wieder aufgenommen zu werden. Quer über einem aufgeschlagenen Buch lag die Brille; das junge Mädchen las tief bewegt einige Zeilen – der letzte geistige Genuß, den die alte Mamsell auf Erden gehabt hatte, war die Rede des Antonius in Shakespeare’s Julius Cäsar gewesen… Da drüben im Wohnzimmer stand der geliebte Flügel, und seitwärts blinkten die Scheiben des großen Glasschrankes – sie zeigten die leere Fläche der Regale, das alte Möbel hatte sich treuloser Weise seine musicalischen Kostbarkeiten entreißen lassen, sie waren zu Asche zerstiebt, andere dagegen hielt es um so fester – Frau Hellwig hatte vergebens nach den Silberschätzen der alten Mamsell gesucht … in diesem Augenblick erschrak Felicitas heftig. Das Geheimfach des Schrankes enthielt nicht allein Schmuck und Silber, in einer Ecke stand auch ein kleiner, grauer Pappkasten. „Er muß vor mir sterben!“ hatte Tante Cordula gesagt … war er vernichtet? … Um keinen Preis sollte er in die Hände der Erben fallen, und doch war die alte Mamsell stets zu feig gewesen, Hand an ihn zu legen. Es war mehr als wahrscheinlich, daß er noch existirte. Wenn das Testament den Ort bezeichnete, wo das Silber lag, dann wurde möglicherweise auch ein Geheimniß offenbar, das die Einsame mit allen Kräften der Welt zu entziehen gesucht hatte – das durfte nun und nimmer geschehen.

Die Glasthür des Vorbaues war von innen verriegelt. Rasch entschlossen drückte Felicitas eine Scheibe ein und griff nach dem Riegel – er lag nicht vor, wohl aber hatte man zugeschlossen und den Schlüssel abgenommen – eine trostlose Entdeckung! … Ein leidenschaftlicher Grimm bemächtigte sich des jungen Mädchens gegen das Verhängniß, das ihr consequent in den Weg trat, wenn sie hoffte, für Tante Cordula wirken zu können. In den Schmerz um die Verstorbene mischte sich nun auch die schwere Sorge um das, was wohl nun kommen werde. War der Inhalt des kleinen, grauen Kastens geeignet, das Gerücht bezüglich einer Schuld der alten Mamsell zu widerlegen? Oder warf er, vielleicht mystisch und unlösbar, einen noch tieferen Schatten auf die Heimgegangene?

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_467.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)