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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 30.

1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Drunten im Vorderhause saß die alte Köchin strickend an der offenen Hausthür, wie sie an schönen Sommerabenden zu thun pflegte. Aus der Küche quoll der Duft frischen Gebäckes, sie hatte kaum erst ein Kuchenblech voll kleiner Brezeln, wie sie Frau Hellwig stets zum Kaffee genoß, aus der Röhre gezogen – es war also hier unten Alles in seinem Geleise fortgegangen, während droben ein Glied der Familie aus der Welt geschieden war.

Felicitas ging in die Gesindestube. Gleich darauf trat auch Heinrich herein. Er hing still seine Mütze an den Nagel, dann schritt er auf Felicitas zu und reichte ihr wortlos die Hand. Der wehmüthige Blick der rothgeweinten Augen in diesem alten, wetterharten Gesicht drang wie erlösend in das schmerzerstarrte Innere des jungen Mädchens – sie sprang auf, schlang ihren Arm um seinen Hals und brach in ein leidenschaftliches Weinen aus.

„Du hast sie nicht noch einmal gesehen, Feechen?“ fragte er nach einer Pause leise. „Friederike sagt, die Madame habe ihr die Augen zugedrückt – ach, gerade die Hände! … Von Dir ist nicht die Rede gewesen, und das kann man sich doch an allen zehn Fingern abzählen, die Madame wäre wüthend geworden, wenn sie Dich da oben gesehen hätte… Wo hast Du denn gesteckt?“

Felicitas’ Thränen hörten sofort auf zu fließen. Mit sprühenden Augen erzählte sie ihm, was geschehen war. Er rannte wie besessen in der Stube auf und ab.

„Ist denn das menschenmöglich!“ rief er ein Mal um das andere und fuhr sich mit beiden Händen in seinen dichten, grauen Haarwust. „Und das hat der liebe Gott so mit ansehen können? … Ei, du heiliges Kreuz! … Und nun gehe Du hin und klage und erzähl’s! Bei Gericht schicken sie Dich heim, weil Du keinen Zeugen hast, und in der ganzen Stadt glaubt Dir’s kein Mensch, denn das ist die gerechte, fromme Frau Hellwig, und Du .… Und wie hinterrücks sie’s gemacht hat!“ unterbrach er sich grimmig auflachend. „Just in einem Moment, wo die Vögel recht geschrieen haben, hat sie die Thür sachte wieder aufgeschlossen. … Ja, ja, ich sag’s ja immer – ‘s ist Eine von den Schlimmsten! … Feechen, Du armes Unglückskind, Dich hat sie bestohlen! Ich hab’ heute Morgen die Herren vom Gericht zur alten Mamsell bestellen müssen – morgen Nachmittag um zwei Uhr wollte sie ihr Testament machen – Deinetwegen… Ja, ja, ‚wer weiß, wie nahe mir mein End'‘, sie war so erstaunlich weltpolitisch, Unsereiner hat sich ordentlich gegraut vor so viel Gescheidtheit in einem Weiberkopfe, aber den schönen Vers hat sie doch nicht ordentlich gekonnt, sonst hätte sie nicht so lange gewartet!“


19.

Es war noch sehr früh am Morgen, als Frau Hellwig im Vorderhof erschien. Statt der wohlbekannten, in ihrer Form seit vielen Jahren fast unverändert gebliebenen weißen Haube legten sich schwarze Spitzen um die blassen, fleischigen Wangen. Das unselige Geschöpf, das so oft den Sabbath des Herrn entheiligt hatte durch unheilige „Lieder und lustige Weisen“, war ja nun todt; auch die letzte Spur seines geächteten Daseins war aus dem alten Kaufmannshause bereits verwischt – man hatte den Leichnam gestern Abend noch in das Leichenhaus geschafft… Trotz alledem hatte die Verstorbene den Namen Hellwig getragen – ihm galten die schwarzen Spitzen und der Kreppstreifen, der heute den wohlgestärkten Leinwandkragen am Hals der großen Frau verdrängt hatte.

Sie schloß die Thür auf, in welcher einst Felicitas die alte Mamsell hatte verschwinden sehen. Außer der bekannten Treppe, welche hinter der gemalten Thür lag, führte noch ein zweiter Aufgang, eine enge, gewundene Stiege, in die Mansarde, und zwar direct von der schmalen, steilen Straße aus; das war der Weg, den Heinrich und die Aufwartfrau benutzt hatten und zu welchem auch die Hofthür führte.

Wohl sahen die Gypsbüsten noch unangetastet von ihren hohen Postamenten herab, allein der Genius war entflohen aus dem Raum, den die große Frau jetzt mit der sicheren, unanfechtbaren Haltung der Besitzergreifenden betrat… Ein kaltes, verächtliches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie die Reihe der Zimmer durchschritt, deren jedes einzelne in seiner Einrichtung das poesievolle Gemüth, den feinempfindenden Geist seiner ehemaligen Herrin bezeichnete, aber sie runzelte auch mit einem haßerfüllten Ausdruck die Brauen, als ihr Auge über Bücherreihen hinter den Scheiben eines Glasschrankes streifte, die auf ihren zierlich gepreßten Saffianeinbänden gefeierte Dichter- und Schriftstellernamen trugen.

Sie ergriff einen starken Schlüsselbund, der auf dem Nachttisch lag, und öffnete einen Secretair – das offenbar interessanteste Möbel für sie. Eine musterhafte Ordnung herrschte in all’ den Kästen; einer nach dem andern wurde aufgezogen – vergilbte, mit verblaßten Bändern zusammengebundene Briefpakete, Schreibehefte kamen zum Vorschein. Die plumpen, weißen Hände stopften sie ungeduldig wieder hinein – was interessirte sie das Geschreibsel, die große Frau war nicht neugierig! … Desto wohlwollender wurde ein Kästchen behandelt, das sich bis an den Rand mit Documenten gefüllt erwies. Mit großer Aufmerksamkeit und dem Ausdruck innerer Befriedigung entfaltete Frau Hellwig Blatt um

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 465. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_465.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)