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stehlen, aber sich nicht ertappen lassen“. Die ertappten Diebe werden denn auch auf die originellste Weise bestraft, indem sie das Geraubte am hellen Tage vor allem Volke seinem Herrn zurücktragen müssen – eine für sie fürchterliche Strafe, welche sie dann auch auf Lebenszeit dem Spott des ganzen Aouls aussetzt.

Was die Kabardiner neben den Tscherkessen noch auf’s Vortheilhafteste über die andern kaukasischen Stämme, namentlich die Georgier, erhebt, ist ihre fast an die alten Germanen erinnernde Keuschheit und die Achtung gebietende Stellung, welche sie den Frauen eingeräumt haben, deren sie stets auch nur eine haben, trotzdem ihnen der Koran die Polygamie gestattet. Die Achtung vor der Frau ist so groß, daß in ihrer Gegenwart die Blutrache nicht ausgeübt werden darf, ja daß sie sogar einen Verfolgten, dem es gelingt, in ihr Gemach zu dringen, vor seinen Feinden schützen kann und daß ein Kabardiner es nie wagen wird, in Gegenwart einer Frau auf seinen Feind einzudringen. Und doch ist das Loos dieser Frauen nicht zu beneiden, denn ihre kleinen Söhne werden ihnen, kaum ein Jahr alt, kaum der Mutterbrust entwöhnt, genommen und einem Fremden, einem Erzieher (Atalik genannt) übergeben, der den Knaben, meist in einem entfernten Aoul, pflegt und erzieht. Die Mutter sieht ihn nicht eher wieder, als bis er ein Mann geworden, und dann ist es natürlich, daß er seinen Erzieher mehr liebt als die Eltern.

Die Ehelosigkeit ist bei diesem Volke streng verpönt, weshalb es geschieht, daß die Kabardiner meist schon sehr früh heirathen. Wenn der Atalik die Erziehung des jungen Mannes beendigt hat, ist er auch noch behülflich, ihn zu verheirathen, und wenn sich sonst die jungen Leute gefallen und gleichen Standes sind, worauf sehr gesehen wird, so bestimmt der Vater der Braut, je nach den Vermögensumständen des Bewerbers, den Brautpreis, welcher in Geld, Pferden, Schafen oder dergleichen besteht. Erst nachdem dieser Preis entrichtet ist, darf sich der junge Mann seine Auserkorene aus dem Hause ihrer Eltern holen, wo ihn dieselbe in prächtigen Gewändern und umhüllt von der weißen Tschadra erwartet. Nach der Sitte des Landes darf sie dem Manne jedoch nicht willig folgen, sondern muß sich sträuben, mit ihm ringen, und je mehr sie sich wehrt und schreit, für desto sittiger wird sie gehalten. Auf ihren Hülferuf eilen die Bewohner des Hauses herbei, dem Bräutigam kommen seine Freunde ebenfalls zu Hülfe, ein kleiner Scheinkampf beginnt und im allgemeinen Wirrwar wird es dem Bewerber leicht mit der schönen Bürde sein schnelles Pferd zu erreichen und davon zu jagen.

Die Hochzeit wird namentlich durch Kampfspiele gefeiert, bei denen starke Verwundungen nicht selten sind. In Gegenwart Fremder gestatten sich die Eheleute nicht die geringsten Zärtlichkeiten, weder einen Kuß noch einen Händedruck. Auch würde es der Ehemann sogar übel nehmen, wenn sich Jemand erlaubte, ihn auf europäische Weise nach dem Befinden seiner Frau zu fragen. Die Frau lebt stets zurückgezogen in ihren Gemächern, und während sie dort ihre weiblichen Besuche empfängt, erhält der Mann den Besuch seiner Freunde in seinen Räumen. Eheliche Treulosigkeit kommt von beiden Seiten nie vor, und da der Mann unumschränkter Herr seiner Frau ist, so würde auch schon ein bloßer Verdacht das Todesurtheil der Frau sein. – Gewiß, es ist ein tüchtiger Kern in dem Volke, aber vor der Hand auch nur dieser und die Zeit noch fern, bis ein Staat, der noch viele solcher roher Elemente zu seinen Bestandtheilen hat, im Ernste den modernen Culturstaaten beigezählt, geschweige als Leiter und Stimmführer im Rathe derselben betrachtet werden kann, wie gern auch der ungemessene Nationaldünkel der Slaven diese Rolle zu spielen sich anmaßen möchte.

A. M.




Tief unter der Erde!
Brief aus Lugau.


„Hoffnungslos verloren!“ Das ist die Antwort auf der Neufundgrube bei dem Dorfe Lugau in Sachsen, wenn wir nach den einhundert und zwei Bergleuten fragen, die am Morgen des ersten Juli dort durch einen Schachtbruch verschüttet worden sind.

Man kann es von der lieblichen Landschaft schwer glauben, daß sie so gräßliches Unglück bedeckt. Recht den Menschen zum Wohlgefallen ist das langgestreckte Thal gemacht, auf das wir, von Chemnitz kommend, hinabsehen. Grünes, freundliches Hügelland, mit Nadelholzgruppen und Weiherspiegeln geschmückt und von ferneren Waldhöhen begrenzt, ist die Heimath von Bauern und Bergleuten, denen der Reichthum unter dem Boden die geringere Fruchtbarkeit der Oberfläche ersetzt, oder ersetzen könnte, wenn die menschlichen Einrichtungen dies überall zuließen. Lugau gehört zu dem großen Zwickauer Steinkohlenbecken und ist durch den Kohlenbergbau aus einem gewöhnlichen Ackerbauerdorf ein stattlicher Ort mit allem Schein des Wohlstandes geworden, wegen seiner Kohlenschätze durch eine Eisenbahn mit aller Welt verbunden.

Aber wer fragt heute danach! Unser Auge sucht nur den einen der vielen ringsum mit Schachtgebäuden gekrönten Hügel, ihm gehört unsere ganze Theilnahme.

Ich ging von Lugau der Bahn entlang, welche am Karlsschacht und Gottessegenschacht vorüber zu dem Orte unsäglichen Jammers führt. Das Unglück lastet so schwer auf allen Herzen, daß kein lächelnder Mund, kein frohblickendes Auge mir begegnete, an so vielen Menschen ich auch vorüberging. Je näher ich dem Hügel kam, der so frischgrün und sanft ansteigt, bedeckt von den dunklen Schachtgebäuden und überragt von der hohen Esse und dem Glockenthürmchen, je lauter das Dröhnen der Werkzeuge an mein Ohr schlug, die dort rastlos am Rettungswerke arbeiten, um so drückender ward mir der Gedanke, daß ich in Gottes Licht über einem Boden wandelte, unter welchem hundert Männer als treue Märtyrer der Arbeit lebendig begraben liegen. Unwillkürlich bohrt die Phantasie durch Erde und Gestein sich den Pfad zum Orte des Grauens, wir sehen die armen Menschen mit den letzten Funken der Lebenshoffnung um ihre Errettung ringen, angstkeuchend dem Lichte entgegenarbeiten! Es ist vielleicht nur eine Erdstrecke, die man in fünf Minuten zurücklegt, zwischen ihnen und dem Leben des Tags! Nur fünf Minuten, und sie sollen die ewige Trennung von ihren Lieben bedeuten! Es ist nicht möglich, den Hügel zu betreten mit anderem, als scheuem Fuß. So betritt man keinen Friedhof mit seinen stillen Gräbern, so kein Schlachtfeld mit seinen Opferzeichen: hier ist Beides vereint – Schlachtfeld und Grab – und alle Schreckniß des Lebendigbegrabenseins dazu!

Und doch befürchtet man ein ganz anderes Bild menschlichen Schmerzes dort zu sehen, als uns wirklich erscheint. Die Gruppen der wimmernden Angehörigen der Verunglückten, von denen die erste Kunde des Schreckens berichtete, sah ich nirgends. Rührige Arbeiter, Bergleute, Schmiede, Zimmerleute, Handlanger, die ihr Herz unablässig noch immer für Rettung antreibt, obwohl ihr Kopf dazu schüttelt, waren umstellt und umwallt von noch immer zahlreichen Zügen Theilnehmender von nah und fern. Nur einzeln schlichen stumme Gestalten, auf deren Antlitz viel Tieferes als nur menschliche Theilnahme sprach, zwischen ihnen, alte Männer, alte Mütterchen; an den Zügen der armen Kinder hatte der erste Schmerz keine Furchen hinterlassen, Gottlob, sie glätten sich noch so leicht! – Aber an jenem Tage des Unglücks, da war es fürchterlich, da riß es Männer nieder, die eigenem Schmerz tyrannisch gebieten können. Haufen um Haufen zogen von allen Thalseiten die Weiber und Kinder und Greise herbei, von Lugau, Oelsnitz, Lungwitz, von Gersdorf, Erlbach, Würschnitz und all’ den Orten, wo die Bergleute dieses Schachtes wohnen. Das Wehgeschrei erfüllte die Luft, Alles drängte zur abgesperrten Unglücksstätte – im Wahnsinn des Schmerzes warfen Mütter und Kinder sich auf den Boden und wühlten die Erde auf, als wenn sie mit ihren blutenden Händen sich hinunter arbeiten wollten zu ihren Männern, ihren Vätern, ihren Söhnen und Brüdern! – Nichts brachte sie von der Unglücksstätte, kein Wort der Hoffnung und des Trostes beruhigte sie, – der Schmerz mußte austoben. Einzeln, allmählich schlichen die wimmernden Häuflein der Familien,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 461. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_461.jpg&oldid=- (Version vom 29.1.2017)