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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Die heißen, trockenen Augen des jungen Mädchens starrten durch das gegenüberliegende Eckfenster nach der mondbeleuchteten Fronte des Rathhauses. Die Statuen zu beiden Seiten der Uhr, eine Muttergottes und der h. Bonifacius, traten geisterhaft lebendig aus ihren Nischen hervor – was half es, daß sie schützend und segnend da droben standen? Dicht unter ihnen war das Unglück geschehen. Die drei hohen Fenster dort, die jetzt silbern glitzerten, hatten an jenem unglückseligen Abend die rothe Gluth einer feenhaften Beleuchtung ausgestrahlt, und da, wo jetzt der Mondschein einsam und harmlos auf dem Boden spielte, war die wundervolle Frauengestalt unerschrocken vor die versammelte Menschenmenge und die dräuenden Feuerwaffen hingetreten; aber unter dem Panzer hatte ein warmes, banges Mutterherz geklopft – einsam, im fremden Hause schlummerte derweil ihr Kind, für das sie erwerben mußte, für das sie immer wieder hinaustrat, bis die letzten sechs Schüsse krachten, unter denen sie sterbend zusammenbrach.

Der Professor trat aus dem Krankenzimmer und schloß die Thüre geräuschlos hinter sich. Er ging auf Felicitas zu, die unbeweglich im Fenster stehen blieb.

„Aennchen schläft sanft,“ sagte er. „Ich werde den Rest der Nacht bei ihr bleiben; ruhen Sie nun auch.“

Felicitas verließ sofort, ohne das Ende seiner Worte abzuwarten, die Fensternische und ging schweigend an ihm vorüber, um das Zimmer zu verlassen.

„Ich meine, heute sollten wir doch nicht so fremd auseinandergehen!“ rief er ihr mit gedämpfter Stimme nach – fast klang es, als streife er wider Willen den Bann des ernsten Schweigens ab. „Wir haben in den letzten Tagen treulich, wie zwei gute Cameraden, zusammengehalten und gemeinschaftlich ein Menschenleben dem Tode abzuringen gesucht – bedenken Sie das!“ fügte er warnt hinzu. „In wenigen Wochen gehen wir ja ohnehin auseinander und jedenfalls auf Nimmerwiedersehen… Ich will Ihnen die Genugthuung nicht versagen, einzugestehen, daß Sie durch eigene Kraft Vieles widerlegt haben, was ich an Vorurtheil und übler Meinung Ihnen gegenüber neun Jahre hindurch festgehalten; nur in einem dunklen Punkt, in Ihrem unseligen Haß und Starrsinn sind Sie das ungeberdige Kind geblieben, das einst meine ganze Härte und Strenge herausgefordert hat!“

Felicitas war ihm wieder einige Schritte näher getreten. Der Mondschein überstrahlte voll ihre Gestalt. So wie sie dastand, den Kopf stolz über die Schulter nach ihm zurückbiegend, während das Gesicht mit den strenggeschlossenen Lippen noch tiefer erblaßte, lag etwas unerbittlich Feindseliges in der ganzen Erscheinung.

„Bei den Krankheiten des menschlichen Körpers forschen Sie zuerst nach der Ursache, ehe Sie sich ein Urtheil bilden –“ entgegnete sie. „Aus was aber die sogenannte Ungeberdigkeit der Menschenseele hervorging, die Sie bessern wollten, das hielten Sie nicht der Mühe werth, zu untersuchen. … Sie urtheilten blindlings auf Einflüsterungen hin und haben sich damit einer ebenso großen Sünde schuldig gemacht, als wenn Sie durch ärztliche Nachlässigkeit einen Leidenden zu Grunde gehen lassen. … Entreißen Sie einem Menschen sein Ideal, eine ganze, erträumte, goldene Zukunft, er wird, und sei er der frömmste und tugendhafteste, im ersten Augenblick sicher nicht die Hände falten und ergeben in den Schooß legen.; wie viel weniger aber ein neunjähriges Kind, das sein Auge unablässig auf den Tag gerichtet hielt, an welchem es einst seine vergötterte Mutter wiedersehen sollte, durch dessen Seele kein Traum, keine Hoffnung ging, die nicht mit diesem Wiedersehen verknüpft gewesen wäre!“

Sie hielt inne, aber über die Lippen des Professors kam kein Wort; nicht einmal sein Auge war ihr zugewendet. Er hatte anfänglich bei ihrer Beschuldigung einmal rasch und heftig den Arm ausgestreckt, als wolle er sie unterbrechen; allein je weiter sie sprach, desto unbeweglicher und aufhorchender wurde seine Haltung; er hob nicht einmal die Hand, um sie über den Bart gleiten zu lassen, eine Bewegung, die er beim Zuhören unablässig zu wiederholen pflegte.

„Der Onkel hat mich in jener glückseligen Unwissenheit gelassen,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „aber er starb und mit ihm das Erbarmen in diesem Hause. … An jenem Morgen war ich zum ersten Mal am Grabe meiner Mutter gewesen; ich hatte Abends zuvor ihr schreckliches Ende erfahren – man hatte mir zugleich gesagt, die Spielersfrau sei ein verlorenes Geschöpf, das selbst der allbarmherzige Gott nicht in seinem Himmel dulde –“

„Warum sagten Sie mir das Alles damals nicht?“ unterbrach sie der Professor dumpf.

Felicitas hatte in Rücksicht auf die nebenan schlummernde Kranke mit unterdrückter Stimme gesprochen, dadurch wurde der Ausdruck düsteren Grolles noch verschärft. Sie sprach auch jetzt in dem angenommenen Ton weiter, während sie ihrem Widersacher das schöne, bitterlächelnde Gesicht voll zuwandte.

„Warum ich das damals nicht sagte?“ wiederholte sie. „Weil Sie von vornherein erklärt hatten, die Menschenclasse, aus der ich stamme, sei Ihnen unsäglich zuwider, und der Leichtsinn müsse in meinem Blut stecken.“ – Der Professor legte einen Moment die Hand über die Augen. – „So jung ich war und obwohl erst eine einzige große, bittere Erfahrung hinter mir lag, wußte ich doch in jenem Augenblick genau, daß ich kein Erbarmen, kein Mitgefühl finden würde – und haben Sie je Erbarmen, Mitgefühl für das Spielerskind gehabt?“ fragte sie, rasch einen Schritt näher tretend und mit unsäglicher Bitterkeit jedes Wort betonend. „Ist Ihnen je eingefallen, daß das Geschöpf, welches Sie lediglich in das Arbeitsjoch einspannen wollten, doch vielleicht auch Gedanken haben könne? Haben Sie seine Seele nicht tausendfach gemartert, indem Sie jede nach außen dringende höhere Regung, jeden Ausdruck einer sittlichen Selbstständigkeit, jeden Trieb zu eigener Veredlung wie wilde Schößlinge erstickten? … Glauben Sie ja nicht, daß ich mit Ihnen rechte, weil Sie mich zur Arbeit erzogen haben – Arbeit, und sei es die strengste und härteste, schändet nie – ich arbeite gern und freudig; aber daß Sie mich zur willenlosen, dienenden Maschine machen und das geistige Element in mir völlig vernichten wollen, welches doch einzig und allein ein arbeitsvolles Leben zu veredeln vermag – das ist’s, was ich Ihnen nie vergessen werde!“

„Nie, Felicitas?“

Das junge Mädchen schüttelte energisch, mit einer fast wilden Geberde den Kopf.

„Also darein muß ich mich unwiderruflich ergeben,“ sagte er mit einem schwachen Lächeln, das sich jedoch, wahrscheinlicherweise sehr gegen seinen Willen, merkwürdig melancholisch gestaltete. „Ich habe Sie tödtlich beleidigt, und doch – ich wiederhole es – konnte und durfte ich nicht anders handeln. …“ Er ging einige Mal im Zimmer auf und ab. „Ich muß noch einmal eine schmerzende Stelle in Ihrer Seele berühren, indem ich meine Motive vertheidige,“ fuhr er rasch fort; „Sie sind völlig mittellos und von – verfehmter Herkunft. Sie sind darauf angewiesen, Ihr Brod selbst zu verdienen. Wenn ich Ihrer Erziehung eine höhere Richtung gab, dann erst wäre es grausam gewesen, Sie in die niedere Dienstbarkeit zurückzustoßen, und doch hätte ich nicht anders gekonnt; oder glauben Sie, daß eine Familie sich dazu verstehen wird, ihren Kindern die Tochter eines Taschenspielers als Erzieherin zu geben? … Wissen Sie nicht, daß ein Mann“ – er hielt einen Augenblick inne, tief Athem schöpfend, während eine fahle Blässe sein Gesicht bedeckte – „ja, daß ein Mann aus den höheren Kreisen, der sein Leben vielleicht mit dem Ihrigen verknüpfen würde, große innere und äußere Opfer bringen müßte? – Welch’ unausgesetzte Demüthigung für Ihr stolzes Herz! … Das sind die socialen Gesetze, die Sie mißachten, welche aber die Mehrzahl der Menschen oft mit unsäglicher innerer Anstrengung und Aufopferung aufrecht erhält, aus Pietät vor dem Vergangenen, und weil sie politisch unbedingt nothwendig sind. … Auch ich muß mich ihnen unterwerfen – es steht ja nicht Jedem auf die Stirn geschrieben, was er innerlich durchmacht – auch von mir verlangen jene Gesetze Entsagung und – einen einsamen Lebensweg.“

Er schwieg. Es durchschauerte Felicitas seltsam, hier in stiller Mitternachtsstunde in das Geheimniß eines strengverschlossenen Männerherzens blicken zu können, das in scheuer Hast, fast widerwillig und mit bebenden Lippen ausgesprochen wurde. … Er liebte und ohne Zweifel ein weibliches Wesen, das nach socialen Begriffen hoch über ihm stand. Eben noch in Haß und Entrüstung ihm gegenüberstehend, beschlich sie jetzt ein ihr bis dahin völlig unbekanntes Weh. … War es möglich, daß sie Mitleid fühlen konnte für ihn? Hatte sie in der That einen so unverzeihlich schwachen Charakter, sie, die neulich so entschieden ausgesprochen: „Wenn ihm ein Leid widerführe, ich würde es nie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_435.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)