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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Seine heißen Gebete und unsere herzlichen Wünsche gingen in Erfüllung: mit dem Kranken wurde es täglich besser und an einem der folgenden Tage war er im Stande, seine Erlebnisse auf dem Schlachtfelde zu erzählen.

„Eine Centnerlast wälzte sich von meiner Seele,“ sprach er, „als ich meinen Bruder Friedrich wohlgeborgen in Ihren Händen sah, und ich zog getrosten Herzens von dannen. Unser Bataillon war zur Bedeckung der preußischen Batterien auf dem Jüdenhügel bestimmt und nahm daselbst mit zwei Schwadronen Cavalerie – Dragoner und Husaren – Stellung. Dicht an dieser Anhöhe hat irgend ein Sonderling im freien Felde einen kleinen Garten angelegt, hinter dessen noch jungen Bäumen und schwacher Umzäunung wir aber dem Feuer des Feindes von dem Kirchberge des nahen Dorfes Merxleben – dem Centrum der Hannoveraner und ihrer massenhaften Artillerie – sehr ausgesetzt waren. Einschlagende und platzende Granaten deuteten bald genug unsere Gefahr an und der Commandirende gab deshalb Befehl, hinter die Anhöhe des Jüdenhügels zurückzugehen, um dem Feinde nicht sichtbar zu sein.

Aber auch dahin sandten die Hannoveraner ihre Vollkugeln und Granatschüsse, ja sogar Bombenfeuer mußten wir aushalten. Indem ich den Schall und Flug der Kugeln beobachtete, bemerkte ich beim Niedersehen in einiger Entfernung an einem Feldstein eine Gestalt in knieender Stellung und mit erhobenen Händen. Eine schreckliche Ahnung drang in meine Seele: Ist das nicht Friedrich, entsprungen und von Neuem nachgelaufen? Für einige Minuten stand ich starr, in furchtbarer, innerer Aufregung. Endlich ermannte ich mich, hob drohend den Degen und gebot durch Zeichen, indem ich auf die einschlagenden Granaten verwies, sich augenblicklich zu entfernen. Wer aber nicht ging, das war Friedrich. Er streckte mir fortwährend die Arme entgegen, rief meinen Namen, flehte und wich und wankte nicht. Was blieb mir am Ende übrig? Ich mußte den Knaben zu mir rufen, aber ich that es mit Zähneknirschen, in der fürchterlichsten Erregung. In diesem Augenblicke hätte ich ihn tödten können. Er sah meinen Zorn und rief: ‚Durchbohre mich, Eduard, tritt mich mit Füßen, nur treibe mich nicht wieder von Dir!‘ Ich stand rath- und thatlos; da rief der Hauptmann: ‚Lieutenant, lassen Sie den Knaben nur hier, nicht jede Kugel trifft!‘ Zu ihm selbst sprach er: ‚Junge, Du hast einen dummen Streich gemacht; eine Schlacht ist Männersache, Kinder gehören in’s Haus zu Vater und Mutter! Der Allmächtige möge Dich schützen!‘

Kaum war das Wort gesprochen, als von Neuem und in nächster Nähe eine Granate einschlug, zersprang und den braven Mann selbst schwer am Fuße verletzte. ‚Lieutenant,‘ rief er, ‚lassen Sie mich aus dem Gefechte tragen, ein Granatsplitter hat mich getroffen, ich leide große Schmerzen!‘ Ein folgender Granatschuß hatte noch eine verhängnißvollere Wirkung: er verwundete den hoch zu Pferde sitzenden Bataillons-Commandeur tödtlich und außerdem noch eine Menge unserer Leute.

Eben wollte ich den Knaben, unter Hinweis auf diese schrecklichen Vorgänge, von Neuem zur Flucht antreiben, als ich urplötzlich ein Ohrengebraus empfand. Es war mir wie Glockengeläute, wie das Summen eines Bienenschwarms; dann glaubte ich wieder Trommelschall und den Donner heransprengender Cavalerie zu vernehmen. Endlich verwirrten sich meine Gedanken immer mehr, das Bewußtsein schwand gänzlich. Was weiter mit mir geschah, ist mir unklar. Lassen Sie uns den Knaben hören.“

„Ich habe nicht viel zu erzählen,“ fuhr der junge Friedrich fort. „Kaum hattest Du die Verwundeten aus dem Gefechte tragen lassen und Dich zu mir gewandt, als ich Dich in die Kniee sinken und zur Erde fallen sah. Mit einem lauten Schrei warf ich mich über Dich her. In diesem Augenblicke stürmte eine Colonne der Hannoveraner dem Jüdenhügel zu und die preußischen Batterien mußten sich zurückziehen. Hannover’sche Dragoner brausten heran und suchten das Bataillon zu zersprengen; ich aber hielt Dich fest umschlungen, unbekümmert um all’ diese schrecklichen Kämpfe. Als sich das Gefecht nach der Stadt zu gezogen hatte und der ganze südliche Abhang frei lag, nahten sich die braven Turner von Gotha, um die Verwundeten aufzuheben und in Sicherheit zu bringen oder die Todten anzusammeln und nach den Friedhöfen zu schaffen. Auch Dich hielten sie für todt, ich selbst glaubte es; da, als sie Dich hoben, schlugst Du die Augen ein wenig auf. ‚Halt!‘ riefen die Wackeren, ‚der Officier ist nicht todt; auf den Wagen mit ihm und in’s Lazareth!‘ Unter Wonneschauern bemerkte ich Dein Erwachen und folgte den Menschenfreunden in das nahe Lazareth der Vorstadt. Du mit sechs anderen Verwundeten, Ihr fandet Euer Lager im ersten Zimmer des Kaffeehauses; aber Niemand bekümmerte sich um Euch Armen, denn immer neue Wagenladungen, darunter die Schwerverwundeten, füllten die Wohn- und Gastzimmer, die großen Säle des Hauses, selbst die überbauten Kegelbahnen, die Lauben und Hütten im Garten.

‚Wasser, Wasser!‘ schrieen meine Verwundeten im Vorderzimmer; Wasser für die lechzenden Zungen, für die brennenden Wunden. Keinen Augenblick zögerte ich. An der Straße, vor dem Hause, stand ein Brunnen, eine Gießkanne fand ich im Garten. Unaufhörlich trug ich frisches Wasser herbei, labte die Schmachtenden und kühlte ihre Wunden. Dir, mein geliebter Bruder, legte ich von Minute zu Minute kalte Umschläge auf das Haupt, wie mir einer der Turner gerathen hatte. Auf diese Weise war die Nacht vergangen und der Morgen angebrochen; aber da sich auch jetzt Niemand um meine sieben Verwundeten bekümmerte, faßte ich mir endlich ein Herz und erkundigte mich bei dem freundlichen Hauswirthe nach Ihrem Namen, und als mir derselbe genannt wurde, ließ ich bei Ihnen um Hülfe bitten. Das Uebrige wissen Sie.“

Ich nickte und erzählte unserem Verwundeten weiter: „Mein Schwiegersohn übernahm es an meiner Statt, in dem Lazarethe nach dem unbekannten Bittsteller zu forschen und Sie, den Verwundeten, hierher schaffen zu lassen. Es war dies keine leichte Sache, denn einmal wurden Sie noch als Gefangener betrachtet, anderntheils wollten die hannöverschen Aerzte Sie nicht losgeben, und es mußte unter Hülfe des menschenfreundlichen Wirthes eine kleine Kriegslist angewendet werden, um Sie mit Wehr und Waffe frei und aus dem Hause zu bringen. Ich war nicht wenig erstaunt und betrübt, als ich Sie ankommen sah, gestützt und gelehnt und mehr getragen, als geführt. Unser Ausreißer Friedrich an Ihrer Seite ließ mich nicht lange in Zweifel über die Person des Ankommenden. Ein guter Geist hatte dem Knaben eingegeben, unsere Hülfe zu suchen. Sie befanden sich, obwohl nicht geradezu verwundet, dennoch in einem sehr bedenklichen Zustande und jetzt kann ich es schon sagen: ich fürchtete einen Schlaganfall; aber der Höchste hat geholfen, die Gefahr ist vorüber.“

Noch etwa vierzehn Tage blieb der junge Officier in unserer Pflege und hatte sich bis dahin soweit erholt, daß der Arzt seinen Transport in die waldige Heimath erlaubte, ja sogar dringend empfahl. „Der Wald mit seinen aromatischen Nadelhölzern, die schattigen Buchen,“ sprach er, „sowie die Ruhe, Stille und Abgeschiedenheit in der schönen Natur wird die Schwächen und Störungen des Nervenlebens am schnellsten und sichersten heben!“

Und so zog unser junger Officier eines Tages mit Bruder Friedrich von dannen, begleitet und geführt von liebenden Händen aus der Heimath. Beide gingen nicht ohne Thränen inniger Liebe und Dankbarkeit, und Brief und Gruß bekunden den Langensalzaer Freunden immer wieder, daß sie unvergessen sind.




Bei der Thränenquelle.


Als ich vor einigen Jahren die südliche Krim besuchte, führte ein russischer Freund, der für mehrere Wochen sich mir als Reisegefährte angeschlossen hatte, in der ehemaligen Tatarenhauptstadt Baktschisarai (d. i. Gartenschloß) mich zum Palast der Khane und hier sofort zu einem Heiligthum seiner stillen Verehrung. In einer der vielen hohen Vorhallen, die im glanzstrahlenden Hofe des ungeheuren Gebäudes vor den Sälen und zahllosen Gemächern sich wölben und in welchen viele Fontainen auf blühendweiße und reichvergoldete Marmorbecken niederrauschen, blieb er vor einer der letzteren stehen. Das Wasser derselben quoll ruhig aus der hohen Säule und fiel aus dem obersten Becken, in welchem es sich sammelte, in zwei andere, in welchen es sich theilte,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 412. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_412.jpg&oldid=- (Version vom 15.3.2017)