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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

streckte er die Linke nach den Briefen aus. Er erbrach einen derselben, während Felicitas wieder nach der Thüre zu schritt.

„Apropos,“ rief er, schon halb und halb in den Brief vertieft, „wer stäubt denn hier im Zimmer ab?“

„Ich,“ antwortete das junge Mädchen stehen bleibend.

„Nun, dann muß ich Sie ersuchen, künftig meinen Schreibtisch mehr zu respectiren. Es ist mir sehr unangenehm, wenn ein Buch auch nur von seiner Stelle gerückt wird, und hier fehlt mir sogar eines.“

Felicitas schritt gelassen nach dem Tisch, auf welchem mehrere Bücherstöße lagen.

„Was hatte das Buch für einen Titel?“ fragte sie ruhig.

Es zuckte Etwas wie ein Lächeln durch das ernste Gesicht des Professors. Die Frage aus einem Mädchenmunde klang aber auch eigenthümlich naiv und bedenklich im Studirzimmer des Arztes.

„Sie werden es schwerlich finden – es ist ein französisches Buch,“ erwiderte er. „Cruveilhier. Anatomie du système nerveux steht auf der Rückseite,“ setzte er hinzu – wieder zuckte es über sein Gesicht.

Felicitas zog sofort eines der Bücher hervor; es lag zwischen mehreren anderen französischen Werken.

„Hier ist es,“ sagte sie. „Es lag jedenfalls noch auf der Stelle, wo Sie es selbst hingelegt hatten – ich nehme keines der Bücher in die Hand.“

Der Professor stützte seine Linke auf den Tisch, drehte sich mit einem Ruck nach dem jungen Mädchen um und sah ihm voll in’s Gesicht.

„Sie verstehen Französisch?“ fragte er rasch und scharf.

Felicitas erschrak; sie hatte sich verrathen. Freilich verstand sie nicht allein Französisch, sie sprach es auch leicht und fließend – die alte Mamsell hatte sie vortrefflich unterrichtet. Jetzt sollte sie antworten, und zwar entschieden antworten. Die stahlgrauen Augen mit dem unabweisbaren Blick wichen nicht von ihrem Gesicht, sie hätten die Lüge jedenfalls sofort abgelesen – sie mußte die Wahrheit sagen.

„Ich habe Unterricht gehabt,“ entgegnete sie.

„Ach ja, ich entsinne mich, bis zu Ihrem neunten Lebensjahr – und da ist Etwas hängen geblieben,“ sagte er, indem er sich mit der Hand die Stirn rieb.

Felicitas schwieg.

„Das ist ja auch der unglückliche Casus, an welchem wir mit unserem Erziehungsplan gescheitert sind, meine Mutter und ich,“ fuhr er fort. „Es ist Ihnen zu viel weis gemacht worden, und weil wir darüber unsere eigene Ansicht hatten, so verabscheuen Sie uns als Ihre Peiniger und Gott weiß was Alles, nicht wahr?“

Felicitas rang einen Augenblick mit sich, aber die Erbitterung siegte. Sie öffnete die blaßgewordenen Lippen und sagte kalt: „Ich habe alle Ursache dazu.“

Einen Moment runzelten sich seine Augenbrauen wie in heftigem Unwillen; allein vielleicht erinnerte er sich so mancher trotzigen und unfreundlichen Antwort, die er oft als Arzt von ungeduldigen Patienten ruhig hinnehmen mußte. … Das junge Mädchen da vor ihm krankte ja auch seiner Meinung nach an einem Irrthum; daraus entsprang jedenfalls die Gelassenheit, mit der er sagte: „Nun, von dem Ihnen gemachten Vorwurf der Verstecktheit spreche ich Sie hiermit frei – Sie sind mehr als aufrichtig… Uebrigens werden wir uns über Ihre schlechte Meinung zu trösten wissen.“

Er nahm den Brief wieder auf und Felicitas entfernte sich. Als sie auf die Schwelle der offenen Thür trat, da flog ein Blick des Lesenden ihr nach. Der Vorsaal war erfüllt von warmem Sonnenglanz; die Mädchengestalt stand plastisch da in dem dunkleren Zimmer, wie ein Gemälde auf Goldgrund. Noch fehlte den Formen jede Rundung und Fülle, die bei der vollkommen entwickelten Frauenschönheit unerläßlich ist; trotzdem erschienen die Linien weich und zeigten in der Bewegung eine unbeschreibliche Grazie, man möchte sagen, jene Schmiegsamkeit, wie sie die Märchenpoesie ihren schwebenden und huschenden Gestalten andichtet… Und was war das für ein merkwürdiges Haar! Gewöhnlich erschien es kastanienbraun; wenn aber, wie in diesem Augenblick, ein Sonnenstrahl darauf fiel, dann blinkte es röthlich golden. Es erinnerte durchaus nicht an jenes geschmeidige, lang herabfließende Frauenhaar, wie es einst unter dem Helm der schönen Spielersfrau hervorgequollen. Ziemlich kurz, aber von mächtiger Fülle, Welle an Welle bildend, sträubte es sich noch sichtbar widerwillig in dem dicken, einfach geschlungenen Knoten am Hinterkopf. Einzelne starke Ringel befreiten sich stets eigenmächtig und lagen, wie eben jetzt, auf dem weißen Halse.

Der Professor bog sich wieder über seine Arbeit; aber der Gedankenfluß, den vorhin die Bürgersfrau unterbrochen, ließ sich nicht sofort wieder in die rechte Bahn lenken. Er rieb sich verdrießlich die Stirn und trank ein Glas Wasser – vergebens. Endlich warf er, ärgerlich über die Störungen, die Feder auf den Tisch, nahm den Hut vom Nagel und ging die Treppe hinab… Hätte der Mohrenkopf, der als Tintenwischer seinem gelehrten Herrn seit Jahren gegenüberstand, den großen, grinsenden Mund noch weiter aufzureißen vermocht, er hätte es sicher gethan, und zwar vor Erstaunen – da lag die Feder, dick angefüllt mit frischer Tinte, und der unglückliche Mohr lechzte vergeblich nach dem Naß und dem gewohnten Vergnügen, mit seinem Kleid ihre vielvermögende Spitze blank zu putzen – unerhört! Der peinlich pünktliche Mann war zerstreut.

„Mutter,“ sagte der Professor, im Vorübergehen das Wohnzimmer betretend, „ich wünsche ferner nicht, daß Du mir das junge Mädchen mit Aufträgen hinaufschickst – überlasse das Heinrich, und ist er einmal nicht da, so kann ich schon warten.“

„Siehst Du,“ entgegnete Frau Hellwig triumphirend, „Dir ist schon nach drei Tagen diese Physiognomie unerträglich; mich aber hast Du dazu verurtheilt, sie neun Jahre lang um mich zu dulden!“

Ihr Sohn zuckte schweigend die Achseln und wollte sich entfernen.

„Der frühere Unterricht, den sie bis zu des Vaters Tode erhalten, hat völlig aufgehört mit ihrem Eintritt in die Bürgerschule?“ fragte er, sich nochmals umwendend.

„Was das für närrische Fragen sind, Johannes!“ rief Frau Hellwig ärgerlich. „Habe ich Dir nicht ausführlich genug über diesen Punkt geschrieben, und ich dächte auch gesprochen bei meinem Besuch in Bonn?… Die Schulbücher sind verkauft worden und die Schreibehefte habe ich in derselben Stunde verbrannt.“

„Und was hat sie für Umgang gehabt?“

„Was für Umgang? … Na, eigentlich nur den mit Friederike und Heinrich; sie hat es ja selbst nicht anders gewollt.“ Jener grausam boshafte Zug erschien in dem Gesicht der Frau, infolge dessen sich die Oberlippe leicht hob und einen ihrer Vorderzähne sehen ließ. „Ich habe es natürlich nicht über mich gewinnen können, sie an meinem Tisch essen zu lassen und in meiner Stube zu dulden,“ fuhr sie fort; „einmal war und blieb sie das Wesen, das sich zwischen Deinen Vater und mich gedrängt hat, und dann wurde sie ja immer unausstehlicher und hoffärtiger. Ich hatte ihr übrigens ein paar Töchter aus christlichen Handwerkerfamilien ausgemacht, mit denen sie umgehen sollte; aber Du weißt ja, daß sie mir erklärt hat, sie wolle nichts mit den Leuten zu schaffen haben, das seien Wölfe in Schafskleidern u. dergl. … Na, Du wirst in den acht Wochen, die Du Dir selbst aufgebürdet hast, schon noch Dein blaues Wunder sehen!“

Der Professor verließ das Haus, um einen weiten Spaziergang zu machen.

Am Nachmittag desselben Tages erwartete Frau Hellwig mehrere Damen, meist fremde Badegäste, zum Kaffee. Er sollte im Garten getrunken werden; und weil Friederike plötzlich unwohl geworden war, so wurde Felicitas allein hinaus geschickt, um Alles vorzurichten. Sie war bald fertig mit ihrem Arrangement. Auf dem großen Kiesplatz, im Schutz einer hohen Taxuswand, stand der schöngeordnete Kaffeetisch, und in der Küche des Gartenhauses zischte und brodelte das Wasser im Erwarten seiner Umwandlung zu dem allgeliebten Mokkatrank. Das junge Mädchen lehnte an einem offenen Fenster des Gartenhauses und sah wehmüthig sinnend hinaus… Da draußen duftete, grünte und blühte es so lustig und harmlos in die blaue, stille Luft hinein, als habe nie ein verheerender Herbststurm an den Zweigen gerüttelt, nie, der Winterfrost seinen tödtenden Krystall um vergehende Blumenhäupter gesponnen. Vor Jahren hatte es ebenso farbig geleuchtet auf Büschen und Beeten für ihn, dessen warmes, weiches Herz nun in Staub zerfiel, für ihn, der seine helfende, stützende Hand überall anlegte, wo es galt – bei seinen emporsprossenden Blumen, wie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_402.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)