Seite:Die Gartenlaube (1867) 397.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

jetzt geführt, hier aber tritt zu unserem Erstaunen ein civilfashionable gekleideter junger Mann an den Wagen, grüßt uns leicht, wirft aristokratisch nachlässig sein carrirtes Plaid auf den Kutschbock, besteigt diesen, läßt sich Zügel und Peitsche reichen – und „rasch hin flogen die Rosse“. – Wir waren überrascht! – Unsere Vermuthung fiel auf einen verrückten Engländer, der dem Posthalter möglicherweise eine solche Ausschweifung abgezwängt hatte; auch war das schweigsame Wesen des neuen erfahrenen Lenkers ganz geeignet, uns in diesem Glauben zu bestärken. Erst bei dem Ferrera-Thal zeigte er sein gutes Deutsch in der Bemerkung: „dort drüben, in einer der Hütten, hat er damals als Carbonari gewohnt“ – (wir hatten nämlich von Louis Napoleon gesprochen) – und jetzt, in der Fortsetzung des Gespräches, trat auch der geistig gebildete Mann hervor.

Leben am Comer See in Bellagio.

Wir konnten uns die Sache immer weniger enträthseln!

Fort ging es durch das Rheinwaldthal, an zahllosen Rheinfällen vorbei nach Splügen.

Hier erreichte unsere Spannung ihren Höhepunkt. Mit freundlicher Eile kamen der Wirth und die Kellner herbei, nicht uns – nein, zuerst unsern Kutscher zu empfangen, dem sie – wir irrten uns wahrhaftig nicht – ein „guten Morgen, Herr Präsident“ zuriefen.

Wie in dem heftigsten Ausbruch der Krankheit oft zu gleicher Zeit das Uebel gehoben ist, so ging es uns auch hier. Der junge Mann war wirklich Präsident jener Gegend, eine Stellung, die der eines preußischen Landrathes nahe kommt. Was würde ein solcher in ähnlichem Falle thun – wie würde sich nur ein Posthalter geriren, wenn kein Postillon vorhanden und dennoch eine Extrapost zu befördern wäre?

Der Präsident, der von hier aus wieder nach Andeer zurückkehrte, nahm vorher unsere Einladung zum Diner an und zu wiederholtem Male nahmen wir den Unterschied der Graubündener gegen die übrigen Schweizer wahr. Körperlich wie geistig ist jener Menschenschlag bevorzugt und selbst die tölpelige Gaumensprache ist einer voll und angenehm klingenden Zunge gewichen.

Bis dahin hatten wir die Schneeberge vor und über uns gehabt; von Splügen aus ging es in sie hinein auf einem Wege, der, von oben gesehen, den Eindruck grauer Leinwand auf der Bleiche macht. In ganz kurzen fast parallellaufenden Windungen zieht sich die Straße hinauf in die urweltlichen Regionen der Steine und des Schnee’s. Nur zwei Baulichkeiten, die den Arbeitern als Nachtquartier dienen, unterbrachen die großartige kahle Oede. Stundenlang dauerte dieser Charakter.

Endlich erreichten wir die Spitze in einer Höhe von circa sechstausendfünfhundert Fuß, wo ein einfacher Stein die italienische Grenze bezeichnet, und lustig kingelten nun die armen gequälten Gäule hinab. Aber es war eine grausige Fahrt. Oft mit Schauder rollten wir dem schwindelnden Abgrunde zu, vor dem nur einfache Holzgeländer einen moralischen Schutz gewähren; doch mit unglaublicher Gewandtheit riß der Postillon die Pferde in dem entscheidenden Momente herum. Lange Tunnel, um vor den fallenden Lawinen zu schützen, unterbrechen diese mit großer Mühe von den Oesterreichern angelegte Passage. Nur einmal hielten wir, um den Fall des Madesimo zu betrachten, der siebenhundert Fuß tief in das Thal hinabstürzt. Auf einem gemauerten Vorsprung, welcher zu demselben führt, ist man von Wasserstaub umgeben und, wenn man das mächtige Schauspiel verläßt – von Bettelkindern, dem Segen Italiens.

Wir waren wirklich in Italien und das erste Städtchen, Campo dolcino, bald erreicht. Hier anständige Visitation und Pferdewechsel. Schmutz starrt Einem entgegen, schiefe Häuser mit zerbrochenen Fensterscheiben und herauswehenden Lappen sind die Behausung einer Bevölkerung, die sich vor den Thüren herumsielt und gegenseitig in den Haaren kraut.

Kam das Lira-Thal. Als ob jene große Umwälzung, welche einst unsern Erdball kopfüber kopfunter stürzte, erst kürzlich erfolgt wäre, so liegen hier die herabgestürzten Felsstücke durcheinander und nur die von Früchten strotzenden Maronenbäume, welche sich in riesigen barocken Formen zwischen denselben hervorarbeiten, beweisen das Gegentheil. Weiße Häuser in nicht zu berechnender Architectur, mit Treppen, von denen man nicht weiß, wo sie herkommen, noch wo sie hinführen, unterbrechen das dunkelgrüne Chaos, durch welches die Lira ungeberdig hinabzankt. Den Hintergrund dieser ganzen entzückenden Partie, die in tropischer Ueppigkeit wuchert, bilden die weißblauen Schneeberge.

Bald nehmen die Rebengehänge, welche die Straße entlang ziehen, die Stelle der Kastanien ein. Welcher Wechsel! Nur eine halbe Tagereise – nur Stunden weit, und andere Natur – andere Menschen – andere Sitten! Dort der Winterrock – hier die Hemdsärmel! Dort Thusis – hier Chiavenna.

Die Peitsche knallte und die Schellen unserer fünf Braunen machten noch vielfach mehr Lärmen, als wir durch die engen Straßen dieser Stadt fuhren, und die Bewohner flüchteten in die Thüren und bekamen als Gruß den reichlichen Inhalt der Gosse, den ihnen Pferdehufe und Räder nachsandten. Große Räume


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 397. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_397.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2017)