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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

No. 23.   1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.      Vierteljährlich 15 Ngr.      Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


7.

Das Stimmengemurmel in der Flur war plötzlich verstummt – es folgte tiefe Stille. Felicitas hörte, wie die Hausthür geschlossen wurde; aber sie wußte nicht, daß damit das Drama in der Hausflur zu Ende sei. Noch wagte sie sich nicht aus ihrem Winkel hervor. Sie saß auf dem kleinen, gepolsterten Lehnstuhl, den der Onkel ihr am letzten Weihnachtsabend geschenkt, und das Köpfchen ruhte auf ihren beiden Händen, die sich auf dem Tische kreuzten. Ihr Herz klopfte nicht mehr so ängstlich, aber hinter der kleinen, gesenkten Stirn hämmerte es, und die Gedanken reihten sich in fieberischer Schnelligkeit aneinander. Sie dachte auch an die kleine, alte Dame, deren Bouquet draußen auf den Steinfließen lag und wahrscheinlich von den unachtsamen Leuten zertreten wurde. … Das war also „die alte Mamsell“ gewesen, jene Einsame hoch droben unter dem Dach des Hinterhauses, der stete Zankapfel zwischen der Köchin und Heinrich! Nach Friederikens Aussage hatte die alte Mamsell Furchtbares auf dem Gewissen – sie sollte schuld sein an ihres Vaters Tode. Diese haarsträubende Geschichte hatte der kleinen Felicitas stets Furcht und Entsetzen eingeflößt; aber jetzt war das vorbei. … Die kleine Dame mit dem guten Gesicht und den Augen voll sanfter Thränen eine Vatermörderin! Da hatte Heinrich sicher Recht, wenn er beharrlich den dicken Kopf schüttelte und ebenso consequent den geistreichen Satz aufstellte, das müsse anders zusammenhängen!

Vor Jahren hatte die alte Mamsell auch hier unten im Vorderhause gewohnt, aber, wie sich die alte Köchin mit immer neu aufloderndem Zorn ausdrückte – sie war nicht davon abzubringen gewesen, Sonntag Nachmittags unheilige Lieder und lustige Weisen zu spielen. Die „Madame“ hatte ihr Himmel und Hölle vorgestellt, aber das war Alles umsonst gewesen, bis kein Mensch im Hause den Gräuel mehr mit anhören konnte – da hatte Herr Hellwig seiner Frau den Willen gethan, und die alte Mamsell hatte hinauf gemußt unter’s Dach. … Dort wäre sie unschädlich, meinte Friederike stets, und man mußte ihr Recht geben, denn man hörte nie auch nur einen Laut des verpönten Clavierspiels im Hause. … Der Onkel mußte jedenfalls sehr böse auf die alte Mamsell gewesen sein, denn er hatte nie von ihr gesprochen; und doch war sie seines Vaters Schwester und sah ihm so ähnlich. … Eine heiße Sehnsucht erfaßte die kleine Felicitas bei dem Gedanken an diese Aehnlichkeit – sie wollte hinauf in die Dachwohnung, aber da draußen stand ja der finstere Johannes – das Kind schüttelte sich vor Angst – und die alte Mamsell steckte Jahr aus, Jahr ein hinter Riegeln und Schlössern.

Am Ende eines langen, abgelegenen Corridors, dicht an der Treppe, die aus den unteren Stockwerken herausführte, war eine Thür. Nathanael hatte einmal, als sie da droben spielten, leise zu ihr gesagt: „Du, da oben wohnt sie!“ dann hatte er mit beiden Fäusten auf die Thür schlagend, laut geschrieen: „Alte Dachhexe, komm’ herunter!“ und war in schleuniger Flucht die Treppe hinabgelaufen. Wie hatte da das Herz der kleinen Felicitas vor Angst und Schrecken geklopft! denn sie war keinen Augenblick im Zweifel gewesen, es müsse ein schreckliches Weib mit einem großen Messer in der Hand hervorstürzen und sie bei den Haaren fassen…

Es fing leise an zu dämmern. Drüben am Rathhaus huschte der letzte goldene Schein der Herbstsonne um das Giebelkreuz, und aus der großen Wanduhr drin im Zimmer schlug es langsam und rasselnd fünf – sie hatte genau so eintönig und langsam jene drei Schläge herabgerasselt, nach welchen ihr ehemaliger Besitzer, der sie lange Jahre hindurch pünktlich und mit liebevoller Vorsicht bedient, hinausgetragen worden war.

Bis dahin war es ziemlich still im ganzen Hause geblieben; aber jetzt wurde die Thür des Wohnzimmers plötzlich geöffnet; und harte, feste Schritte schollen durch die Flur. Felicitas zog ängstlich den Vorhang an sich heran, denn Frau Hellwig näherte sich dem Zimmer des Onkels. Das erschien dem Kind wunderbar neu; es war nie vorgekommen, daß die große Frau bei Lebzeiten ihres Mannes je diese Schwelle betreten hatte. … Sie kam ungewöhnlich rasch herein, schob leise den Nachtriegel vor und blieb dann einen Augenblick mitten im Zimmer stehen. Es war ein Ausdruck unsäglichen Triumphes, mit welchem diese Frau ihre Blicke langsam durch den so lange streng gemiedenen Raum gleiten ließ.

Ueber Hellwig’s Schreibtisch hingen zwei schöngemalte Oelbilder, ein Herr und eines Dame. Die letztere, ein stolzes Gesicht, aus dessen Augen aber Geist und Lebenslust sprühten, war in jener Tracht, welche so unschön die altgriechische nachzuahmen sucht. Die kurze Taille, die ein weißer, leuchtender Seidenstoff umschloß, wurde noch verkürzt durch einen rothen, golddurchwirkten Gürtel; Brust und Oberarme, fast zu üppig geformt und sehr wenig bedeckt, harmonirten in ihrer herausfordernden Schönheit durchaus nicht mit dem anspruchslosen, züchtigen Veilchenstrauß, der im Gürtel steckte. … Es war Hellwig’s Mutter.

Vor dieses Bild trat die Wittwe jetzt; sie schien sich einen Moment daran zu weiden. Dann stieg sie auf einen Stuhl, hob es von seiner gewohnten, langjährigen Stelle, und schlug vorsichtig, ohne großes Geräusch einen neuen Nagel inmitten der zwei

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 353. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_353.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2019)