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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

mit Spielersleuten zu schaffen gehabt – wenn man nur wenigstens wüßte, ob die Menschen getraut gewesen sind.“

Sie schielte hinüber nach Frau Hellwig und erwartete ohne Zweifel einen belobenden Blick für ihre „herzhafte“ Antwort, allein die Madame band eben Nathanael die Serviette ab und sah überhaupt drein, als sähe und hörte sie von dem ganzen Handel nichts.

„Das ist stark!“ rief Hellwig entrüstet. „Muß ich denn erst heute erfahren, daß in meinem ganzen Hause weder Mitleiden, noch Erbarmen zu finden ist? Und Du meinst, Du dürfest unbarmherzig sein, weil Du ehrlicher Leute Kind bist, Friederike? … Nun, zu Deiner Beruhigung sollst Du wissen, daß die Leute in rechtlicher Ehe gelebt haben; aber ich sage Dir auch hiermit, daß ich von nun an sehr streng mit Dir verfahren werde, sobald ich merke, daß Du dem Kind irgendwie zu nahe trittst.“

Es schien, als sei er des Kampfes müde. Er stand auf und trug die Kleine in die Kammer der Köchin. Sie ließ sich gutwillig zu Bett bringen und schlief bald ein, nachdem sie mit süßer Stimme für Papa und Mama, für den guten Onkel, der sie morgen wieder zu Mama tragen werde, und – für „die große Frau mit dem bösen Gesicht“ gebetet hatte.

Spät in der Nacht ging Friederike zu Bett. Sie war zornig, daß sie so lange hatte aufbleiben müssen, und rumorte rücksichtslos in der Kammer. Die kleine Felicitas fuhr jäh aus dem Schlaf empor; sie setzte sich im Bett auf, strich die wirren Locken aus der Stirn, und ihre Augen glitten angstvoll suchend über die räucherigen Wände und dürftigen Möbel der engen, schwach beleuchteten Kammer.

„Mama, Mama!“ rief sie mit lauter Stimme.

„Sei still, Kind, Deine Mutter ist nicht da; schlaf’ wieder ein,“ sagte die Köchin mürrisch, während sie sich entkleidete.

Die Kleine sah erschreckt zu ihr hinüber; dann fing sie an, leise zu weinen – sie fürchtete sich offenbar in der fremden Umgebung.

„Na, jetzt heult die Range auch noch, das könnte mir fehlen – gleich bist Du still, Du Komödiantenbalg!“ Sie hob drohend die Hand. Die Kleine steckte erschrocken das Köpfchen unter die Decke.

„Ach, Mama, liebe Mama,“ flüsterte sie, „wo bist Du nur? Nimm mich doch in Dein Bett – ich fürchte mich so … ich will auch ganz artig sein und gleich einschlafen… Ich habe Dir auch etwas aufgehoben, ich habe nicht Alles gegessen – Fee bringt Dir etwas mit, liebe Mama… Oder gieb mir nur Deine Hand, dann will ich in meinem Bettchen bleiben und –“

„Bist Du wohl still?“ schrie Friederike und rannte wie wüthend nach dem Bett des Kindes… Es rührte sich nicht mehr – nur dann und wann drang ein unterdrücktes Schluchzen unter der Decke hervor.

Die alte Köchin schlief längst den Schlaf des Gerechten, als das arme Kind, die aufgeschreckte Sehnsucht im kleinen Herzen, noch leise nach der todten Mutter jammerte.


5.

Hellwig war Kaufmann. Erbe eines bedeutenden Vermögens, hatte er dasselbe durch verschiedene industrielle Unternehmungen noch vermehrt. Er zog sich jedoch, weil er kränkelte, ziemlich frühe aus der Geschäftswelt zurück und privatisirte in seiner kleinen Vaterstadt. Der Name Hellwig hatte da einen gewichtigen Klang. Die Familie war seit undenklichen Zeiten eine der angesehensten, und durch viele Generationen hindurch hatte immer einer der Träger des geachteten Namens irgend ein Ehrenamt der Stadt bekleidet. Der schönste Garten vor den Thoren des Städtchens und das Haus am Markt waren seit Menschengedenken im Besitz der Familie. Das Haus bildete die Ecke des Marktplatzes und einer steil bergauf steigenden Straße, und an dieser Ecke lief die stattliche Fronte des Gebäudes in einen weit hervorspringenden Erker aus. In den zwei oberen Stockwerken hingen Jahr aus, Jahr ein schneeweiße Rouleaux hinter den Scheiben; nur dreimal im Jahr, und dann stets einige Tage vor den hohen Festen verschwanden die Hüllen – es wurde gelüftet und gescheuert. Die mächtigen, erzenen Drachenköpfe hoch oben am Dach, die das Regenwasser aus der Dachrinne hinunter auf das Pflaster spieen, die Vögel, die vorüber flatterten, sahen dann die aufgespeicherten Schätze des alten Kaufmannshauses, sahen die altmodische Pracht der Zimmer – jene hohen Schränke von kostbarer, eingelegter Arbeit mit den blitzenden Schlössern und Handhaben, die reichen, seidendamastenen Ueberzüge auf den strotzenden Daunenkissen der Kanapees und den hochgepolsterten Stühlen, die deckenhohen, in die Wand eingefügten venetianischen Spiegel, und in den Kammern die hochaufgestapelten Gastbetten, deren feinen Leinenüberzügen ein starker Lavendelduft entquoll.

Diese Räume wurden nicht bewohnt. Es war niemals Sitte in der Familie Hellwig gewesen, einen Theil des geräumigen Hauses zu vermiethen. Durch alle Zeiten hatte da droben vornehmes, feierliches Schweigen geherrscht, das nur unterbrochen wurde durch eine glänzende Hochzeit oder Kindtaufe, und im Lauf des Jahres dann und wann durch den hallenden Schritt der Hausfrau, die dort ihre Leinenschätze, ihr Silber- und Porcellangeschirr verwahrt hielt.

Frau Hellwig war als zwölfjähriges Kind in dies Haus gekommen. Die Hellwig’s waren ihr verwandt und nahmen sie auf, als ihre Eltern rasch hintereinander starben und sie und ihre Geschwister mittellos hinterließen. Das junge Mädchen hatte einen schweren Stand der alten Tante gegenüber, die eine strenge und stolze Frau war. Hellwig, der einzige Sohn des Hauses, empfand anfänglich Mitleiden für sie, später aber verwandelte sich die Theilnahme in Liebe. Seine Mutter war entschieden gegen seine Wahl, und es kam deshalb zu schlimmen Auftritten, allein der Liebende setzte schließlich seinen Willen durch und führte das Mädchen heim. Er hatte die mürrische Schweigsamkeit der Geliebten für mädchenhafte Schüchternheit, ihre Herzenskälte für sittliche Strenge, ihren starren Sinn für Charakter gehalten und stürzte mit dem Eintritt in die Ehe aus all’ seinen Himmeln. Binnen Kurzem fühlte der gutmüthige Mann die eiserne Faust einer despotischen Seele im Genick, und da, wo er dankbare Hingebung gehofft hatte, trat ihm plötzlich der crasseste Egoismus entgegen.

Seine Frau schenkte ihm zwei Kinder, den kleinen Nathanael und seinen um acht Jahre älteren Bruder Johannes. Den Letzteren hatte Hellwig schon als elfjähriges Kind zu einem Verwandten, einem Gelehrten, gebracht, der am Rhein lebte und Vorstand eines großen Knabeninstituts war.

Das waren Hellwig’s Familien-Verhältnisse zu der Zeit, wo er das Kind des Taschenspielers in sein Haus nahm. Das schreckliche Ereigniß, dessen Zeuge er gewesen war, hatte ihn tief erschüttert. Er konnte den flehenden, unsäglich schmerzlichen Blick der Unglücklichen nicht vergessen, als sie gedemüthigt in seiner Hausflur gestanden und seinen Thaler in Empfang genommen hatte. Sein weiches Herz litt unter dem Gedanken, daß es vielleicht sein Haus gewesen war, wo das arme Weib den letzten verwundenden Stachel ihrer unglückseligen Lebensstellung hatte empfinden müssen. Als daher der Pole ihm die letzte Bitte der Verstorbenen mittheilte, da erbot er sich rasch, das Kind erziehen zu wollen. Erst, als er auf die dunkle Straße hinaus trat, wohin ihm der letzte, herzzereißende Abschiedsruf des unglücklichen Mannes nachscholl und wo die Kleine, ihre Aermchen fester um seinen Hals schlingend, nach der Mama frug, erst da dachte er an den Widerspruch, der ihn voraussichtlich daheim erwartete; allein er rechnete auf den Liebreiz des Kindes und auf den Umstand, daß seiner eigenen Ehe ja ein Töchterchen versagt sei – er hatte trotz aller schlimmen Erfahrungen noch immer keinen vollkommenen Begriff von dem Charakter seines Weibes, sonst hätte er sofort umkehren und das Kind in die Arme des Vaters zurückbringen müssen.

War bis dahin das Verhältniß zwischen Hellwig und seiner Frau ein frostiges gewesen, so hatte es jetzt nach der Aufnahme der kleinen Waise den Anschein, als seien granitne Mauern zwischen dem Ehepaar aufgestiegen. Im Hause ging zwar Alles seinen Gang unbeirrt fort. Frau Hellwig wanderte täglich mehrere Mal durch die Haus- und Wirthschaftsräume – sie hatte durchaus keinen schwebenden Gang, und für ein feines, oder gar ein ängstliches Ohr hatten diese harten, festen Schritte etwas Nervenaufregendes. Fortwährend glitt dabei ihre rechte Hand über Möbel, Fenstersimse und Treppengeländer – es war ein unbezwinglicher Hang, eine Manie dieser Frau, die große, weiße Hand mit den kolbigen Fingerspitzen und den breiten Nägeln über Alles hinstreifen zu lassen und dann die innere Fläche sorgsam zu prüfen, ob nicht Staub-Atome, oder das verpönte Fädchen eines Spinnwebenversuchs daran hänge… Es wurde gebetet nach wie vor, und die Stimmen, die Gottes ewige Liebe und Barmherzigkeit priesen, die sein Gebot wiederholten, nach welchem wir selbst unsere Feinde

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 338. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_338.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)