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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Thüringens auf einsamen Pfaden weit über die Berge geführt und schon begann es leise zu dämmern, als wir zurückkehrend den ziemlich steilen Weg herabstiegen, der sich in mannigfachen Windungen von den rings umherliegenden Höhen bis in die Straßen des Städtchens zieht, das jetzt im Glanze des goldübergossenen Himmels wie träumend zu unseren Füßen lag. Mein Begleiter hatte auf dem Rückwege mit besonderer Wärme gesprochen, war aber seit einigen Augenblicken auffallend still geworden und spähte zerstreut in die Ferne, als ob seine Aufmerksamkeit durch irgend einen unerwarteten Anblick gefesselt sei. Plötzlich blieb er stehen und ich erschrak fast, als er lebhaft meinen Arm erfaßte und mit dem Finger nach unten deutend in bewegtem Tone sagte:

„Sehen Sie dort das Licht?“

Ich blickte nach der bezeichneten Richtung und hatte bald zwischen einer Reihe alterthümlicher Gebäude, die hier am Rande der Stadt ihre Vorderseite in die Berge kehren, ein kleines Haus entdeckt, hinter dessen weinumrankten Fenstern bereits das trauliche Zeichen abendlichen Beisammenseins, der röthlich in das Halbdunkel hinausblitzende Schimmer flammender Kerzen, deutlich zu bemerken war.

Der Präsident war meinen Blicken mit seltsamer Spannung gefolgt und schien befriedigt, als ich mit dem Kopfe nickte und unsere Augen nun gemeinsam auf dem einen schimmernden Punkte ruhten.

„Es freut mich, daß Sie es gefunden haben,“ sagte er mild, „es ist ja auch rings im Umkreise bis jetzt das einzige Licht und überhaupt kein Licht wie andere Lichter, d. h. für den, der es kennt. Und Sie kennen es, nicht wahr, Sie wissen, was es bedeutet?“

Ich wußte es. „Es ist heut’ Freitag,“ erwiderte ich, „und gerade die Stunde, wo überall bei den Juden, die noch an ihren alten Gebräuchen hängen, vor dem Eintreten der Dunkelheit der Sabbath beginnt und das Sabbathlicht angezündet wird. In dem Hause da unten muß eine jüdische Familie wohnen.“

„So ist es,“ rief sichtlich erheitert mein bejahrter Freund, „und dieses Licht, die glückliche Flamme, welche durch die ergreifende Leidensgeschichte der Juden die trostlose Nacht ihres Daseins wenigstens einmal in jeder Woche freundlich durchleuchtet hat, vor Allem ist es, was auf mich stets eine ganz eigenthümlich erregende Wirkung übt. So oft ich zufällig einem jüdischen Sabbath- oder Festlicht begegnen mag, kann ich es nicht sehen, ohne unwillkürlich nach einer weichen Stelle meines Herzens zu greifen, ohne mich ergriffen zu fühlen von einem unbeschreiblichen Heimweh nach jener ganz besonderen Art von harmloser Freude, von sanftem und heiterem Frieden, wie ich ihn einst nur im Schimmer dieses Lichtes genossen habe.“

Ich sah den Mann betroffen an. Auf seinem sonst etwas strengen Gesichte lag jetzt ein Zug der Verklärung, jenes wehmüthig milde Lächeln, das mir beim Beginn dieser Mittheilungen vorgeschwebt. Er bemerkte die Verlegenheit, in welche mich sein plötzlicher Gefühlsausbruch versetzt hatte, und sagte scherzend: „Sollte ich Ihnen wirklich noch nicht erzählt haben, daß ich als Jude geboren und in einem ehrbaren jüdischen Hause von gebildeten, aber noch frommgläubigen Eltern erzogen worden bin? Nun ja, wir sind zufällig nicht darauf gekommen, und man sieht mir das so leicht nicht an, die Spuren meiner Herkunft haben sich schon in früher Jugend bei mir verwischt – es sind jetzt sechsunddreißig Jahre, daß ich Christ bin – und die Kreise und Umgebungen, in denen ich später so viele Jahre hindurch gewirkt und mich bewegt habe, waren gewiß nicht dazu angethan, jüdische Traditionen in mir lebendig zu erhalten. Schon zur Zeit meines Uebertritts war ich über alle confessionellen Unterschiede und Schranken hinausgewachsen, aber ich kann wohl sagen, daß ich mich herzlich und ohne Rückhalt Allem angeschlossen habe, was sich von den Sitten und Gewohnheiten eines christlichen Hauses mit meinen freien religiösen Ansichten vereinigen ließ. Meine nächsten Freunde, Studien- und Gesinnungsgenossen waren Geistliche aus der Schule Schleiermacher’s, kurz, ich habe dem Christenthum gegenüber kein Gefühl der Fremdheit, das sich etwa auf jüdische Vorurtheile gründete. Und trotz Allem – ich erzähle eine psychologische Thatsache und stelle kein philosophisches System auf – trotz Allem lebt und regt sich in meinem Innersten ein Etwas, das jüdisch geblieben, ein tiefes Gefühl der Anhänglichkeit an Alles, ja der eigenen Ehrfurcht vor Allem, was mir in dem schönen Morgenglanze meines Lebens einst heilig und ein Gegenstand der Inbrunst gewesen ist. Ich lasse es nicht antasten und in den Schatten stellen – und,“ fuhr er erregt mit gehobener Stimme fort, „wer jemals in einem der jüdischen Hauser, wie sie vielfach noch jetzt existiren und vor dreißig oder vierzig Jahren noch durchweg bestanden, eine fromme Mutter den Festtag rüsten und mit segnend ausgebreiteten Händen das Licht entzünden sah; wem einst ein theurer Vater unter ergreifendem Aussprechen des hebräischen Segens in solcher feierlichen Stunde die Hände auf’s Haupt gelegt; wer jemals das beklommene Gefühl, die heiligen Schauer empfunden, mit dem ein jüdisch erzogenes Kind am Eingange des großen Fast- und Versöhnungstages an der Seite der Eltern und Geschwister zur Synagoge geht, mit dem es im strahlend erleuchteten Tempel die in weiße Sterbehemden gehüllten Gestalten sieht und den uralten, zuweilen wilden, aber von wehmüthig schmerzlichen Klängen durchzogenen Melodien der Synagogengesänge lauscht; … wer am Gedächtnißtage der Zerstörung Jerusalems in der finstern Synagoge unter Absingung der Klaglieder Jeremiä mit der fastenden Gemeinde auf der Erde gesessen; … wer die düsteren und strengen Trauergebräuche nach dem Tode der nächsten Angehörigen und dann wieder im Gegensatz dazu das in jüdischen Familien so unvergleichlich gemüthliche und lustige Purim-, sowie das glänzende Passah- und Laubhüttenfest … wer dies Alles – und ich könnte die Beispiele noch zwanzigfach vermehren – in regelmäßiger Wiederkehr nicht blos gesehen, sondern Jahre hindurch von Jugend an mit durchlebt hat: der ist ein Lügner oder ein gefühlloser Mensch, wenn er mir sagt, er habe diese Eindrücke abgeworfen wie ein altes Kleid, er habe sie mit der Wurzel wieder aus sich herausreißen können, wie einen schlechten und leblosen Keim. Haben Sie jemals mehr als flüchtig der Feier jüdischer Feste beigewohnt?“

„Die Feier hat etwas Strenges durch das unbedingte Ruhegebot,“ bemerkte ich, „sie schließt die Freude aus, hat nichts von der hellen und bunten Beweglichkeit der christlichen Feste.“

„Wie man es nimmt,“ lautete die Entgegnung, „man muß jede geschichtliche Lebenserscheinung eben in ihrer Eigenthümlichkeit zu erfassen wissen. Das jüdische Fest schließt nicht die weltliche Freude aus, sondern verlangt dieselbe geradezu; wohl aber schließt es das aus, was man Vergnügen nennt, die brausende Lust, Tanz, Spiel und lärmendes Gelage. So werden Sie z. B. jüdische Handwerker, Soldaten oder Dienstmägde gerade an ihren Sabbath- und Feiertagen nicht auf Tanzplätzen oder an anderen dergleichen Orten finden. Auch werden Hochzeiten und ähnliche Feste nicht an diesen Tagen gefeiert. Sonst aber haben dieselben mit dem düstern, langweiligen und kopfhängerischen Sonntag der schottischen Puritaner und unserer deutschen Betbrüder nichts gemein; es sind vielmehr meistens heitere Familienfeste, die sich wie ein immer frisch und duftig bleibender Kranz durch das bekanntlich sehr arbeitsvolle Leben des fleißigen Stammes flechten und ihr Charakteristisches eben in dem Umstande haben, daß ein Theil der religiösen Observanz in das Haus fällt, sich z. B. hier auf die vorschriftsmäßig sehr reichen und trefflichen Festmahle der Familie, auf den Dank für den Wein, auf die Bereitung des weißen Fest- und Sabbathbrodes, auf das Anzünden des festlichen Lichtes, auf den vom Vater jedem seiner Kinder und Enkel zu ertheilenden Segen und auf viele andere nur am heimischen Heerde vor sich gehende Dinge bezieht. Man besucht sich einander und giebt sich an den Abenden und in den Stunden, welche zwischen den verschiedenen Gebeten und Gottesdiensten liegen, einer ungebundenen Fröhlichkeit hin, bei welcher auch der originelle Witz und drastische Humor des jüdischen Naturells eine nicht geringe Rolle spielen. Dies Alles, und auch sogar die verschiedenen Jahreszeiten, in welche sie fallen, gehört zum Gesammtcolorit dieser Tage. Daß man mit seinem Kopfe und Wesen darüber hinauswachsen, sich persönlich davon lossagen, andere Anschauungen gewinnen und doch den von dem Dufte einer ganz unvergleichlichen Weihe durchwärmten Reiz dieser Eigenthümlichkeit nicht wieder vergessen kann, sehen Sie an meinem Beispiel. Was habe ich nicht an blendendem Glanz und großartiger Herrlichkeit gesehen von der Peterskirche in Rom bis zum Czarenpalaste in Petersburg! Und doch bedurfte es nur des Anblickes dieser armseligen, mir so lange entfremdeten Flämmchen, um geheime Saiten meines Gemüthslebens zu erschließen und mich zu diesen Ergüssen zu führen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_314.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)