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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Die Vorlesung eines weiblichen Doctors in London.
Von Karl Blind.

„England ist das Paradies der Frauen, das Fegefeuer der Dienstboten, die Hölle der Pferde!“ so lautet ein altes Sprüchwort, das sich schon, wenn ich mich recht entsinne, im Tagebuch eines deutschen Prinzen, der im sechzehnten Jahrhundert England bereiste, erwähnt findet.

Die edlen Renner genießen zwar hier einer Pflege, die jenes Sprüchwort Lügen zu strafen scheint. Allein wahr bleibt es doch, daß das englische Volk mit den Rossen und mit den Thieren überhaupt keineswegs so gutmüthig umgeht, wie es im Ganzen z. B. in Deutschland der Fall ist. Die Dienstboten in England erfreuen

Dr. Marie Walker.[WS 1]

sich heutzutage einer großen Unabhängigkeit, und im Vergleich zu ihrer Stellung erscheint die der betreffenden Classe in unserem Vaterlande wie eine wahre Sclaverei. Allein die Härte der englischen Zustände liegt darin, daß bei der Freiheit des Vertragsrechtes jeder Rest von wohlmeinender Sorglichkeit für das „Gesinde“ auf Seiten der Familien geschwunden ist, und daß sich „Herrschaft“ und „Dienstboten“ vielfach wie Feinde gegenüberstehen.

Für die Frauen endlich ist dies Land allerdings in gewissem Sinne ein Paradies. Hier sieht man nicht Weiber auf dem Felde ackern und hacken, während der Mann mit dem Pfeifenstummel im Munde nebenher lungert. Hier sieht man nicht Frauen unter schweren Hotzen keuchen oder mit über die Brust gespanntem Seile am Schiff ziehen. In nur wenigen Geschäften, und zwar in solchen blos, für die das Geschlecht sich eignet, sind Frauen thätig. Die Familie aber, die sich gesellschaftlich irgendwie über die untere Mittelclasse erhebt, betrachtet es als selbstverständlich, daß die weiblichen Angehörigen, von aller drückenden Arbeit frei, der größten Bequemlichkeit genießen und überall mit der äußersten Zuvorkommenheit behandelt werden. In Wahrheit darf man sagen, daß, von dieser Bevölkerungsschicht an bis zu der sogenannten höchsten hinauf, sich für die Frauen eine stets neue „Reihe von Himmeln“ aufthut – vorausgesetzt allerdings, daß man von der thatsächlichen Rechtlosigkeit absieht, in welcher das weibliche Geschlecht in England gehalten wird.

Die Errungenschaften der französischen Revolution für das bürgerliche Leben der Frauen sind auf britischem Boden noch unbekannt. Der Mann ist überall ihr nothwendiger, unvermeidlicher Vertreter. Nur durch ihn erscheint sie vor dem Gesetz als ein rechtsfähiges Wesen. Das ist der düstere Punkt in dem „Paradies“; das die Ursache, warum sich in der englischen Frauenwelt, die bisher so still die bürgerliche Rechtlosigkeit getragen, eine Bewegung für politische Emancipation herausbildet, wie sie bisher nur in Amerika betrieben worden ist. Die Ansätze dazu sind bis jetzt freilich nur schwach. Auch wird die Bewegung vorerst noch nicht rein principiell geführt, denn für die verheiratheten Damen will man das Wahlrecht nicht verlangen. Unter denen, die als Fürsprecherinnen des so modificirten Vorschlages hervorgetreten sind, nenne ich die geistvolle Schriftstellerin Frances Power Cobbe, das auch in Deutschland wohl bekannte Fräulein Martineau, ferner die Gattin des Parlamentsmitgliedes P. A. Taylor, u. A. Ihre Bestrebungen hat Englands bedeutendster Nationalökonom und philosophischer Denker, John Stuart Mill, durch einen im Parlament gestellten Antrag befürwortet. Als Bundesgenosse ist ihnen der greise General Perronet Thompson, der Veteran der Anti-Korngesetz-Liga, zur Seite getreten.

Die dem Unterhause vorgelegte Petition trägt nur die Unterschriften von eintausend sechshundert und fünf Wittwen und Mädchen. Eine gleichzeitig eingereichte Petition, die dreitausend fünfhundert neunundfünfzig Unterschriften zählt, weist die Namen von verheiratheten Frauen und Männern auf, die der Ertheilung des Stimmrechtes an unverehelichte Damen und Wittwen günstig sind. Unter den Namen der Männer findet sich eine unverhältnißmäßig große Anzahl geistlicher Würdenträger. In der That glaubt man, daß nach den jetzigen Zuständen in England das Frauenstimmrecht dem – kirchlichen Interesse zu Gute käme!

Ich habe die Frage der politischen Gleichstellung der Frauen mit einigen der obengenannten entschiedensten Wortführerinnen persönlich besprochen. Scheint es mir auch, daß nicht blos das ganze Erziehungssystem, sondern – was kaum wünschenswerth wäre – sogar der Charakter des Geschlechtes erst geändert sein müßte, ehe eine solche völlige Gleichstellung erfolgen könnte, so bedarf es doch andererseits kaum eines Beweises, daß die Stellung der Frauen einer gründlichen Verbesserung fähig ist. Wenn man die Frauen, vermittels eines edleren Erziehungssystems, zur Theilnahme an den höchsten Idealen des Mannes, zum tieferen Verständniß seines Ringens für große und allgemeine Zwecke heranbildet; wenn sie dadurch in noch erhöhterem Maße, als sie es jetzt schon sind, selbst zu Bildnerinnen einer Nation werden, so kann sich die Freiheit und der menschliche Fortschritt nur Glück dazu wünschen. Michelet hat glänzend nachgewiesen, daß die gewaltige Volksbewegung des vorigen Jahrhunderts sicherlich einen günstigeren Verlauf genommen hätte, wäre die Frau nicht vorzugsweise unter dem geistigen Druck altererbter Vorurtheile und unter dem Einflusse einer volksfeindlichen Priesterschaft gestanden. „Durch die Frauen die Männer und dadurch den Staat zu beherrschen,“ ist ein alter Grundsatz der jesuitischen Finsterlinge. Unleugbar hat daher die Partei, welche Menschenrecht und Menschenwürde auf ihre Fahne schreibt, ein gebotenes Interesse, die Frauenwelt, die mit tausend zarten Banden das Leben umflicht, hereinzuführen in die große geistige Bewegung, sie zu erfüllen mit erhabeneren Begriffen von Volks- und Staatswohl, sie fähig zu machen für Leidenschaften, die man mit Unrecht als dem Wesen des Weibes widersprechend bezeichnet hat.

In England selbst, wie oben bemerkt, beschränkt sich die Propaganda

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Walter
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 309. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_309.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2017)