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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

ungestüm äußernden lächerlichen Deutschenfresserei, betrachtet werden muß. Es wird daher unsern Lesern sicher willkommen sein, sich mit uns den berühmten „kleinen Mann“ etwas näher anzusehen und uns auf einem Besuche zu ihm zu begleiten.

Kaum der Schulbank in Marseille entronnen, weiß Thiers schon, daß er Minister sein wird. In Aix sieht er die arme, alte Frau, die vor dem Facultätsgebäude Früchte feil hielt, sich eines Tages mühsamer als sonst, hinschleppen und tröstet sie mit den Worten: „Geduldet Euch, Mütterchen, wenn ich Minister sein werde, sollt Ihr in meinem Wagen fahren.“ In Paris wird er bald inne, daß der Journalismus rascher zu Namen und Ansehen führt, als die Advocatur. Durch Vermittelung eines Deputirten gelangt er zur Mitwirkung an dem, damals freisinnigen kirchenfeindlichen „Constitutionnel“. Ausgestattet mit allen Eigenschaften, die den vollkommenen Journalisten ausmachen: mit wunderbarer Leichtigkeit des Stils, blitzschnellem Verständniß, gedrängter Beweisführung, nimmt er rasch eine der ersten Stellen an dem Blatte ein, und durch Lafitte öffnen sich ihm bald sämmtliche Salons der Opposition. Kurz darauf erscheinen die ersten Bände seiner Geschichte der französischen Revolution; schon liegt das Mansardenstübchen auf dem Passage Montesquieu weit hinter ihm, er hat eine elegante Wohnung in einem fashionablen Viertel, hält sich sein Reitpferd und speist bei Tortoni.

Infolge der Julirevolution zuerst Unterstaatssecretär im Finanzministerium geworden, ist er, nach geschickter Schwenkung zur Rechten, binnen Kurzem im Besitz des langerstrebten Ministerportefeuilles. Neun Jahr hindurch, von 1832 bis 1841, ist er, von einem Ministerium zum andern übergehend, fast unausgesetzt am Ruder der Geschäfte, „der Goethe der Politik“, wie ihn Heine in einem seiner Briefe an die Allgemeine Zeitung nannte, „der König von Frankreich“, wie ihn der geistvolle Karr in seinen „Wespen“ bezeichnete, als Thiers, zum zweiten Male Ministerpräsident, 1840 im Zenithe seines Ruhmes stand. Damals war es, als er zuerst in die Kriegstrompete stieß und von der Eroberung des Rheines sprach. Vielleicht besser als sonstwer wußte er, daß eine solche Eroberung ein Ding der Unmöglichkeit sei, aber er schmeichelte damit einem Schooßkinde der französischen Eitelkeit und Ruhmsucht, und die Deutschen haben vielleicht ebenso Unrecht, Thiers darüber zu grollen, als die Franzosen im Unrecht sind, sich über die Hinweise in patriotische Aufregung zu setzen, die hie und da wegen des Elsasses und Lothringens von deutscher Seite laut geworden sein mögen.

Wie Thiers bei Gelegenheit des Staatsstreiches, am 2. December 1851, mitten in der Nacht gefangen genommen und nach Mazas abgeführt wurde; wie er darauf ein Jahr in der Verbannung und dann, nach Frankreich heimgekehrt, eilf Jahre in stiller Zurückgezogenheit lebte, ausschließlich mit der Vollendung seiner Geschichte des Consulats und des Kaiserreichs beschäftigt; wie er endlich 1863 von den Parisern zu ihrem Vertreter in den gesetzgebenden Körper gewählt wurde, – das Alles ist bekannt.

Trotz eines Alters von siebenzig Jahren immer thätig, hat Thiers sich die Frische, man möchte sagen, den Uebermuth der Jugend bewahrt und ist noch heute ein unermüdlicher Arbeiter. Als solcher wird er in’s Grab sinken, jenen dauerhaften Bauten vergleichbar, die von Wind und Wetter unberührt, wenn endlich die Zeit sie umwirft, ein ganzes Stück bleiben. Uebrigens denkt Thiers kaum an diese verhängnisvolle Stunde, und wenn er ja auf sein nahes Ende anspielt, wie neulich in der Kammer, so geschieht es in einer wohl sehr natürlichen und gerechtfertigten Anwandlung von Stolz; es klingt etwas heraus, das an die Gefallsucht einer Frau erinnert, die, über die Jahre schön geblieben, hin und wieder mit ihrem hohen Alter zu prahlen beliebt. Wie zur Zeit seiner kräftigsten Jugend steht Thiers tagtäglich früh um fünf Uhr auf und geht sofort in sein Arbeitszimmer, das, von sehr bedeutender Größe, eine Art Galerie bildet und von fünf Fenstern erleuchtet wird, deren vier auf die Place St. Georges hinaussehen, das fünfte nach dem Garten des Hotels, einem schönen Garten, wie man einen solchen noch selten in Paris antrifft, mit großen Bäumen, mit einem weiten Rasenplatz und unzähligen Rosenstöcken. Die Rose ist die Lieblingsblume Thiers’. Er bleibt bis gegen Mittag bei der Arbeit und nimmt dann in seinem Arbeitszimmer ein leichtes Frühstück ein. Wie alle Männer die mit dem Kopfe arbeiten, ißt er des Morgens nur wenig und raucht nicht, was er mit allen sehr Thätigen gemein hat.

Sehr sorgfältig schreibt Thiers seine Reden nieder, nicht blos ein und zwei, ja drei und vier Mal, und lernt sie auswendig, ehe er sie hält. Alle bedeutenden Redner übrigens verfahren nicht anders und es ist ein gewaltiger Irrthum zu glauben, daß sie aus dem Stegreif sprechen. Dies findet wohl bei Gegenreden statt und in ganz besonderen Umständen, aber nie bei eigentlichen Reden, welche einen ganzen, großen Gegenstand besprechen, Zwischen jedem Male Niederschreiben läßt er eine angemessene Zeit verstreichen, schreibt die zweite Rede, ohne die erste, und die dritte, ohne die zweite zu lesen, und wenn dann der Tag heranrückt, an dem er zu sprechen hat, liest er die drei Reden durch, zergliedert sie, prüft, welche Entwickelungen oder Einschränkungen sein Gedanke in jeder dieser drei Ausarbeitungen erfahren hat, und schreibt nach dem so angestellten Vergleiche die vierte, das heißt diejenige Rede nieder, die er wirklich hält. Diesem Verfahren verdankt Thiers die wunderbare Ordnung und geschlossene Kette seiner Beweisführung, die Klarheit des Gedankens, die in jeder seiner Reden anzutreffen sind. Er hat eine dicke, fette Handschrift und säet beim Arbeiten die vollgeschriebenen Seiten um sich her, um sie trocknen zu lassen. Ich begegnete eines Tages Pelletan, da dieser eben aus dem Hotel der Place St. Georges heraustrat. „Thiers bereitet irgend eine große Rede vor,“ sagte er mir, „ich habe ihn eben inmitten eines großen Haufens nasser Blätter angetroffen, die das Kaminfeuer kaum zu trocknen vermag.“ Es war dies in den ersten Tagen des Monats December 1865, und die Rede, an der Thiers bereits arbeitete, war seine berühmte Rede über die Grundsätze von 1789, die erst in der Sitzung vom 26. Februar 1866 gehalten wurde.

Daß Thiers, der schon so früh auf ist, noch vor der Nacht das Bedürfniß nach einiger Unterbrechung und Ruhe fühlt, wird Niemand Wunder nehmen. Er verläßt denn auch die Kammer mit Ausnahme der Tage, an denen er spricht, regelmäßig um sechs Uhr und fährt in seinem Wagen schnellsten Laufes in sein Hotel zurück, wo er bis gegen sieben Uhr auf einem Ruhebette ausgestreckt liegt. So erklärt sich, warum man bei Thiers erst um acht Uhr speist. Es ist dies vielleicht das einzige Haus in Paris, wo so spät gegessen wird. Dafür ißt man aber sicherlich nirgends besser, als bei dem berühmten Geschichtsschreiber Napoleon’s. Alle gekannten und von vielen Gästen sehr oft nicht gekannten Weine werden hier gereicht und der Koch Thiers’ kann für einen Meister seiner Kunst selbst unter einem Volke gelten, das sich rühmt, der Menschheit das Geheimniß der einzig wahren Küche geoffenbart zu haben. Man könnte eine Seite voll Rührung über den Aufwand der Tafel, die Feinheit des Porcellans, den Glanz der Krystallgläser und den Reichthum der Credenza oder des Büffets schreiben, das mit dem wundervollsten Silbergeschirr besetzt ist, aber es ist mir wohl gestattet, mich über diese Herrlichkeiten nicht weiter auszulassen und nur mit Mirabeau’s Worten zu sagen: „Das Tafelgeschirr der Großen kann mir keine Rührung abgewinnen.“

Thiers hat jeden Tag der Woche, einen einzigen ausgenommen, an dem er außer dem Hause ißt, einige Gäste zum Diner. Dies ist keine geringe Aufgabe für Jemand, der wie er bewirthet, allein der alte Ministerpräsident ist reich, und einhundertundfünfzig- oder zweimalhunderttausend Franken, die das jährlich kostet, sind für ihn nicht erheblich. Ein fast tagtäglicher Gast bei Thiers ist Mignet. Eine alte und aufrichtige Freundschaft verbindet diese beiden Männer, die, in derselben Stadt geboren, zusammen studirten, zugleich nach Paris kamen, ihr Glück hier zu suchen, und nebeneinander in dem Eingangs erwähnten Winkel der Passage Montesquieu gewohnt hatten. Ihre gegenseitige Freundschaft ist weder durch das Glück und das Vermögen des Einen, noch durch das hervorragende Talent des Andern auf einem verwandten Gebiete je gestört worden. Sollte sich Thiers nie eingestanden haben, daß er zwar ein großer Chronikenschreiber, sein Freund Mignet aber ein großer Geschichtsschreiber sei? Daß er ohne Neid und der unveränderte Freund Mignet’s geblieben, ehrt ihn und dient denen zur Antwort, die mitunter behauptet haben, er sei herzlos.

Herr und Frau Thiers sehen alle Abende Gesellschaft bei sich. Frau Thiers, die Tochter eines sehr reichen Generaleinnehmers, ist eine Frau von fünfzig- bis fünfundfünfzig Jahren, die zu ihrer Zeit hübsch gewesen. Schon seit mehreren Jahren leidend, liegt sie jetzt auf einer chaise longue ausgestreckt und erhebt sich für Niemand, wer es auch sei, sich darauf beschränkend, die Leute, die kommen und gehen, mit

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_298.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2017)