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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

gewollt – ich darf nicht zurückschrecken, auch nicht durch Vorwürfe, die Andere mir machen werden und die ich mir selbst machen muß.“

Adeline von R. nahm, indem sie dies sagte, eine andere Haltung an. Der Kopf richtete sich in die Höhe, der Körper streckte sich gerade, das Auge wurde lebendig, der Blick frei, ruhig, fest. Aus dem scheuen, ängstlich zagenden Mädchen war plötzlich ein ernstes, entschlossenes Weib geworden. Mit ruhiger Sicherheit beugte sie sich zu Boden, hob das Paket auf, trat dicht an meinen Arbeitstisch heran und sagte:

„Herr Inspector, ich will sieben Tage sitzen. Es ist mir gesagt, daß Sie die Anweisung zur Aufnahme bereits erhalten hätten. Hier“ – sie legte ein Papier auf meinen Tisch – „ist die Aufforderung zur Strafverbüßung. Ich denke, das wird genügen. Oder bedürfen Sie sonst noch etwas? Dann bitte ich, mir das mitzutheilen.“

Sie bewahrte hierbei eine eisige Ruhe und ließ eine solche Entschiedenheit durchblicken, daß ich nur noch amtlich mit ihr verkehren durfte und alle Fragen über persönliche und Familienverhältnisse und, was meine Neugierde am meisten beschäftigte, über die Strafthat unterdrücken mußte.

Bei der Einschließung in die Gefängnißzelle blieb die Gefangene vollkommen fest. Sie war weder überrascht, noch zeigte sie Scheu oder Furcht. Sicher und unbefangen trat sie über die Schwelle hinweg in den kleinen, dunkeln Raum hinein. Ich wies ihr das Bett, machte sie noch mit einigen Bestimmungen der Hausordnung, die auch sie beachten mußte, bekannt und ließ sie dann allein. Hiermit war die Einleitung zu einem entsetzlichen Drama vollendet. –

Am andern Morgen wollte ich im Untersuchungsbureau Erkundigung über Adeline von R. einziehen. Man konnte mir dort aber nur wenig mittheilen. Die Strafe war von einem andern und ziemlich entfernt gelegenen Gerichte erkannt, die Verurtheilte früher dort wohnhaft gewesen, aber verzogen, und in der Requisition ausdrücklich bemerkt worden, daß die Verurtheilte es gewünscht habe, die Strafe in der mir untergebenen Anstalt zu verbüßen. Die Strafthat war gar nicht erwähnt, es schien dies durch ein Versehen unterblieben zu sein.

Nichts ist vergänglicher als die Zeit. Adeline von R. hatte bereits sechs Tage Strafe verbüßt. Außer mir war Niemand zu ihr gekommen, nicht einmal der Director, weil dieser zufällig durch Unwohlsein behindert war, die gewöhnlichen Gefängniß-Revisionen vorzunehmen. Ich hatte der Gefangenen alle nur irgend zulässigen Erleichterungen gewährt, und diese ihre Dankbarkeit dadurch bethätigt, daß sie mir niemals eine Ursache zur Klage gab. Ueber ihre Verhältnisse hatte ich indeß nichts erfahren können; sie wußte jeder Frage vorzubeugen oder durch ausweichende Antworten mir fühlbar zu machen, daß ich kein Recht habe, mich in ihre Angelegenheiten zu mischen.

Am Morgen des siebenten Tages sprach Adeline von R. mit wahrer Herzensfreude über die nahe bevorstehende Entlassung und wie sie bis dahin die Stunden zählen werde. Sie erwähnte dabei auch zum ersten Male, daß ihre Rückkehr sehnlichst erwartet werde, sie sagte aber nicht, wer sie erwarte, ob Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester, Freund oder Freundin. Ich sollte darüber an einer andern Stelle Aufklärung erhalten.

Wenige Stunden später ließ mir der Untersuchungsrichter sagen, daß ich Adeline von R. sofort zu einem Verhör vorführen lassen sollte. Der Bote, welcher dies bestellte, bemerkte beim Fortgehen, daß der Untersuchungsrichter nicht allein, daß der Staatsanwalt bei ihm sei und daß die Gefangene etwas ganz Besonderes ausgeheckt zu haben scheine, da beide Herren äußerst lebhaft mit einander gesprochen hätten.

Ich wollte die Vorführung einem andern Beamten nicht übertragen und ging daher selbst zu der Gefangenen in das Gefängniß. Als ich bei ihr eintrat, rief sie mir freudig erregt entgegen:

„Herr Inspector, nur noch sechs und eine halbe Stunde, dann bin ich wieder frei, dann athme ich wieder Freiheitsluft! Ach, wonniger Gedanke! Freiheit, wie werde ich dich nun lieben! Aber,“ unterbrach sie sich, „Sie sehen ja so ernst, so finster, so streng, wie –“

„Der Untersuchungsrichter will Sie sprechen,“ fiel ich ein. „Folgen Sie mir.“

„Mich sprechen?“ wiederholte sie. „Mein Gott! ich kenne ja diesen Herrn nicht. Was will er denn von mir?“

„Er wird Ihnen das selbst sagen, ich kann Ihnen darüber keine Mittheilung machen. Beeilen Sie sich, Sie werden erwartet.“

„Nur einen Augenblick, ich bin bald fertig.“

Adeline von R. schien unschuldig zu sein. Sie war allerdings überrascht, ihr Verhalten verrieth aber mehr Ungeduld und Neugierde, als Schreck oder Furcht. Die großen schönen Augen trübten sich nicht ein Mal, sie lachten nur nicht mehr, sie blickten suchend in dem kleinen Raume umher und blieben zuletzt auf einem Tuche ruhen, das über die Lehne eines Stuhles gelegt war. Mit einer reizenden Gewandtheit nahm sie das Tuch fort und warf es sich über. Dann trat sie dicht vor mich hin.

„Herr Inspector,“ sagte sie hastig, „meine Toilette ist beendigt. Der Herr Untersuchungsrichter wird Nachricht haben; ich kann ja hier nicht mehr bieten.“

Sie lachte wieder, aber unschuldig wie ein Kind, wenn diesem irgend ein Wunsch befriedigt ist. Auch auf dem Wege nach dem Verhörzimmer blieb sie in dieser heitern, lachenden Stimmung. Das Herz schien nicht schneller zu klopfen, das Gemüth völlig beruhigt zu sein. Hatte sie wirklich nichts zu fürchten, keine weitere Schuld auf sich geladen? Ich wünschte das.

Der Untersuchungsrichter war nicht allein. Außer dem Staatsanwalt war noch ein Herr anwesend, den ich nicht kannte. Es war eine große, starke Figur, entweder ein Militär oder, was mir wahrscheinlicher zu sein schien, ein activer Polizeibeamter in Civilkleidung. Ich ahnte, daß dieser bei der folgenden Scene eine Hauptrolle spielen werde. Daher war meine Aufmerksamkeit ausschließlich diesem Herrn zugewendet.

Bei unserm Eintreten bemerkte ich, daß er Adeline von R. scharf fixirte. Unmittelbar darauf verzog sich sein scharf markirtes Gesicht zu einem Lächeln. Dies Lächeln war ungeheuer vielsagend. Es lag darin die Bestätigung für meine Vermuthung, daß ich einen Polizeibeamten vor mir hatte, und dann auch die Gewißheit, daß meine Gefangene als eine Schuldige erkannt war. Allein das beschäftigte mich für den Augenblick weniger, ich ärgerte mich vielmehr darüber, daß der Mann überhaupt lachen konnte.

Das Aufsuchen eines Beschuldigten ist unter allen Umständen ein sehr ernstes Geschäft. Die Erfüllung ernster Pflichten erfordert den vollen Ernst des Beamten. Diesen Ernst zu verleugnen oder, was mir noch viel schlimmer schien, gar nicht zu empfinden, das wollte mir nicht gefallen. Der Mann mußte kein Herz im Leibe haben und ohne Gefühl sein.

„Nun?“ fragte der Untersuchungsrichter.

„Es ist so, wie ich Ihnen sagte, Herr Rath,“ versetzte der Polizeibeamte.

„Herr Inspector,“ wendete der Erstere sich an mich, „Sie haben angezeigt, daß Adeline von R. sieben Tage Strafe verbüße.“

„Ja.“

„Die Anzeige ist falsch.“

„Herr Rath –“

„Die Anzeige ist falsch,“ wiederholte er stärker, „ist Ihnen Adeline von R. persönlich bekannt?“

„Nein.“

„Die Person da hat Sie belogen. Sie hat sich Ihnen gegenüber einen Namen zugelegt, der ihr nicht zukommt. Wie ist Ihr Name?“ fragte er ernst die Gefangene.

Ich hatte diese, seit wir das Zimmer betreten, gar nicht wieder angesehen. Erst bei dieser Frage sah ich mich nach ihr um. Sie war in der Nähe der Thür stehen geblieben, leichenblaß, zitternd, stumm, den Kopf tief gesenkt. Die Antwort blieb aus. Vielleicht war die Frage ganz überhört. Der Untersuchungsrichter trat dicht vor sie.

„Ich habe Sie gefragt,“ schrie er aufgeregt, „wie Ihr Name ist. Wollen Sie antworten!“

Die Gefangene schreckte zusammen, sie wankte und würde zu Boden gefallen sein, wenn ich nicht schnell zugesprungen wäre und sie aufrecht erhalten hätte. Der Staatsanwalt brachte einen Stuhl herbei, ich ließ die Gefangene darauf nieder und blieb ihr zur Seite stehen. Alle Bemühungen, die nach einander von dem Untersuchungsrichter, dem Staatsanwalt und mir gemacht wurden, um das Mädchen zum Sprechen zu veranlassen, erwiesen sich als erfolglos, sie blieb stumm und starrte regungslos vor sich nieder, scheinbar auf nichts achtend, was in ihrer Nähe sich zutrug. Und doch war sie nicht ohne Theilnahme. Denn als der Untersuchungsrichter nach einer kurzen, leise geführten Unterredung mit dem

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