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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

machen können. Und dennoch konnte ich die Anweisung nicht, wie ich dies gewöhnlich zu thun pflegte, so ohne Weiteres an den dazu bestimmten Ort bringen. Ich mußte sie wiederholt durchlesen, weil eine dunkle Ahnung mir sagte, daß die Ausführung derselben etwas ganz Ungewöhnliches mit sich bringen werde.

Die kurze Dauer der Strafe ließ auf eine Gesetzes-Uebertretung von keiner besondern Bedeutung schließen. Auf der andern Seite dagegen mußte ich mir sagen, daß die Verurtheilung zu einer Freiheitsstrafe bei der gesellschaftlichen Stellung der Dame die Anwendung des Strafgesetzes ohne jede Milderung, also in seiner ganzen Strenge documentirte. Ich mußte unwillkürlich auch noch daran denken, daß Gründe vorliegen müßten, welche den Erlaß der Strafe oder die Umwandlung derselben in eine Geldbuße im Wege der Gnade nicht zugelassen hatten.

Die Angelegenheit wurde jedoch durch andere Vorkommnisse verdrängt und war, da die Dame weder in der ersten, noch in der zweiten Woche nach Empfang der Anweisung sich zum Strafantritt gestellte, bei mir ganz in Vergessenheit gerathen. Erst zu Ende der dritten Woche wurde ich wieder daran erinnert.

Es war bereits spät, ich hatte den Gefangenen schon das Abendessen ausgeben lassen und befand mich in meinem Arbeitszimmer, um die schriftlichen Arbeiten, für deren Besorgung am Tage selten Zeit übrig bleibt, zu erledigen. Ich war damit so eifrig beschäftigt, daß ich auf nichts geachtet, nicht einmal das Oeffnen der Thür gehört hatte; ich fuhr deshalb überrascht ein wenig zusammen, als ich in geringer Entfernung neben mir mit leiser, zitternder Stimme „guten Abend“ sagen hörte. Bei dem Aufsehen bemerkte ich ein junges Mädchen in eleganter Kleidung, das zögernd und mit Unsicherheit bis dicht zu mir herantrat, dann schweigend stehen blieb und hier eine Aufforderung zum Sprechen zu erwarten schien.

Ich hatte Zeit, Beobachtungen anzustellen. Zuerst erregte die Kleidung meine Aufmerksamkeit. Sie war nicht so, wie ich sie bei den Besuchen in meinem Arbeitszimmer zu sehen gewöhnt war. Dann sah ich weiter hinauf und war fast noch mehr überrascht, als ich ein rundes, frisches und lebhaft gefärbtes Gesicht erblickte, welches durch die Regelmäßigkeit seiner Züge für schön gelten mußte. Die Augen waren zu Boden gesenkt, ich konnte nicht in den Spiegel derselben hinabsehen. Allein der Ausdruck des Gesichts und die ganze Haltung des Mädchens drückten Scheu, Angst und Scham aus.

In den Gefängnissen gehören solche Erscheinungen zu den Seltenheiten. Daß das Mädchen gekommen sei, um eine ihr auferlegte Strafe zu verbüßen, mußte ich annehmen, weil dieselbe ein kleines, sorgfältig zusammengelegtes Paket unter dem Arme trug, in welchem ich einige Reserve-Kleidungsstücke vermuthete.

Meine Wahrnehmungen hatten Theilnahme, sogar Mitleid erweckt. Freundlicher, als ich dies wegen der unzeitigen Störung sonst wohl gethan haben würde, forderte ich das Mädchen auf, näher zu kommen. Sie rührte sich aber nicht, der Kopf blieb gesenkt, die Augen von den[WS 1] Lidern bedeckt.

„Wie heißen Sie?“ fragte ich nach einer kleinen Pause.

Auch auf diese Frage erhielt ich keine Antwort. Das Mädchen kämpfte aber mit dem Entschlusse. Ich nahm dies daraus ab, daß die Lippen zuckten und der Mund sich öffnete, als ob Worte daraus hervorkommen sollten. Allein das Alles ging flüchtig vorüber und war kaum bemerkbar.

„Aber, liebes Kind,“ fuhr ich etwas ungeduldiger fort, „Sie müssen mir doch sagen, was Sie wollen, weshalb Sie hierher gekommen sind?“

„Ich will sitzen.“

Das Mädchen sagte das leise, unsicher, stockend. Die Worte wollten nicht über die Lippen hinweg.

Ich sah sie erstaunt an. „Wie viel Strafe haben Sie?“ fragte ich dann.

„Ach Gott! Ach Gott!“

Weiter hörte ich nichts. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper, die Brust arbeitete mit einer erstaunlichen Raschheit. Das Alles sollte aber nicht wahrnehmbar sein, die Aufregung unterdrückt werden. Das Weh der Seele war jedoch zu groß, der Kampf zu schwer, die Kräfte reichten nicht aus. Ich suchte einen Ableiter.

„Wie lange wollen Sie denn sitzen?“ fragte ich.

„Sieben Tage.“

Diese beiden Worte wurden herausgepreßt. Mit dem Aussprechen derselben schien indeß das Schwerste gethan zu sein. Denn unmittelbar darauf hörte das Zittern auf, die Brust wurde ruhiger, die Lungen arbeiteten gleichmäßiger, die Bewegung war überwunden, nur der Kopf blieb noch immer zu Boden gesenkt.

„Und Ihr Name?“

„Ich wurde Adeline von R. gerufen.“

„Ah!“

Ich hatte den Ausruf des Erstaunens nicht zu unterdrücken vermocht, er war mir ganz unwillkürlich entschlüpft und auch kräftiger, als mir lieb war. Adeline von R. schrak zusammen, richtete aber bald darauf den Kopf empor und den Blick fragend auf mich.

Ich sah in zwei große, klare Augen von wunderbarer Schönheit. Der auf mich gerichtete Blick übte eine unwiderstehliche, eine hinreißende Macht. Es lag darin kindliche Unschuld, tiefer Schmerz, peinigende Furcht, und über das Alles hinweg, wie ein Schleier ausgebreitet, muthige Ergebung. Die Augen waren feucht, aber nicht naß, der Schmerz hatte noch keine Thräne erpressen können. Das Mädchen wollte nicht unterliegen, es wollte stark sein und war es vielleicht auch.

Ich befand mich in einer ganz eigenthümlichen Verlegenheit; ich wußte nämlich für den Augenblick nicht, wie ich mit Adelinen von R. verkehren, welchen Ton ich anschlagen sollte. Ihre bevorzugte Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft machte eine aufmerksamere Behandlung nothwendig, als ich bis dahin ihr hatte zu Theil werden lassen. Doch wollte ich dies nicht gern zugestehen, noch weniger aber den unabsichtlichen Verstoß durch eine Entschuldigung gut machen. Noch war ich nicht zu einem Entschlusse gekommen, als Adeline von R. die eingetretene Pause unterbrach.

„Herr Inspector,“ sagte sie fest und dreist, „Sie wissen nun, weshalb ich hierher gekommen bin. Ich verlange nicht, daß Sie etwas thun sollen, was sich mit Ihren amtlichen Pflichten nicht verträgt, aber ich bitte Sie dringend, mich nicht strenger zu behandeln, als diese Pflichten es nothwendig machen. Werde ich wohl allein sein können?“

„Wenn Sie das wünschen, ja.“

„Mich wird Niemand sehen dürfen?“

„Nein, nur die Beamten der Anstalt; ein Anderer hat keinen Zutritt.“

„Das ist gut. Ich möchte mich verbergen vor allen Menschen, und auch vor dem lieben Gott! An dem Worte ‚gesessen‘ klebt ja ein unauslöschlicher Makel. Diesen Makel ein ganzes Leben zu tragen, das ist fürchterlich, das ist grauenhaft.“

Adeline von R. schlug beide Hände vor das Gesicht. Das Paket, welches sie bis dahin unter dem Arme festgehalten hatte, fiel zu Boden und blieb hier unbeachtet liegen. Von Zeit zu Zeit übten die Hände einen Druck auf das Gesicht aus. Vielleicht war das unabsichtlich eine Folge der augenblicklichen Erregung; es konnte aber auch der Ausdruck von Furcht sein und der Druck momentan die Schreckbilder verscheuchen sollen, welche die Vorstellung von einer grauenhaften Zukunft in der Seele des Mädchens geschaffen hatte.

„Sie gehen da zu weit,“ sagte ich, um zu trösten. „Der Makel hängt nicht an dem ‚Sitzen‘, sondern an der Handlung, welche durch das Sitzen gesühnt werden soll.“

„Gewiß, so ist es,“ erwiderte sie, indem sie mit einer raschen Bewegung die Hände von dem Gesicht wegriß. „Allein das tröstet nicht, weil nicht alle Menschen so denken, weil selten darnach gefragt wird, ob die Strafe auch verschuldet ist. Das ist herzlos, das ist unchristlich! Wer aber will das ändern? Soll es der thun, der darunter zu leiden hat? Ach, der würde gegen die Menge kämpfen, gegen den Strom schwimmen wollen und müßte untergehen; dem bleibt nur übrig, zu dulden, und sich vor den Menschen zu verbergen, oder dahin zu gehen, wo seine Vergangenheit nicht bekannt ist.“

„Ich meine,“ schaltete ich hier ein, „daß die Menschen weniger zu fürchten sind als das eigene Bewußtsein, oder, wenn Sie wollen, das Gewissen mit seinen quälenden Vorwürfen –“

„Still, still, lieber Herr,“ fiel Adeline von R. mir in’s Wort. „Glauben Sie nicht, daß ich diese Vorwürfe unterschätze. Ich habe unsäglich gekämpft, ehe ich mich entschloß, hierher zu gehen, ich war sogar versucht, nicht –, ach Gott! ich darf nicht daran denken; Sie verstehen mich nicht – ich habe es nicht anders

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: der
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_282.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)