Seite:Die Gartenlaube (1867) 275.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

„Wie Ihr wollt,“ sprach Esperance unverändert. „Den Vater bringe ich dorthin und bürge für seine Sicherheit. Als Minister kennen sie ihn dort nicht; die paar alten Thoren, die ihm feind, zählen nicht.“ Und sich abwendend und ihren Platz neben dem Baron einnehmend, fügte sie gegen Jonas, welcher auf dem Bock saß, entschlossen hinzu: „vorwärts, nach Dernot!“




9. Von der Not.

Es sah fast danach aus, als habe das Mädchen zu viel gehofft und verheißen: je weiter man auf der schlimmen Reise kam, desto bedenklicher erschien das bestimmte Ziel, denn die Aufregung und Gereiztheit nahm mit der Entfernung von der Residenz nicht ab, und man erkannte erst hier, wie unheilvoll das gestürzte Regiment gewirkt und wohin es die schlichten, geduldigen oder indifferenten Menschen dieser Gegenden geführt hatte. Man hatte böse Stunden zu erleben und mußte es wohl als ein Glück schätzen, daß Treuenstein seit vielen Jahren nicht in diese Landstriche gekommen und mit den Seinen niemand bekannt war. Und abgesehen davon, daß der Weg, welcher ihnen übrig blieb, schon an und für sich nicht der nächste, wagte doch selbst Esperance nicht, die Wagen stets der wirklichen Straße folgen zu lassen. Hie und da hatte man weite Umwege zu machen, um die belebteren und daher auch aufgeregteren Orte zu vermeiden, und man durfte es wohl eine Gunst des Geschicks heißen, daß man in dem kleinen Dorfe, wo man endlich rasten mußte, fast keinen männlichen Bewohner außer dem Pfarrer daheim und in diesem einen wackeren Mann fand, welcher nicht auf die „Gefährlichkeit“, sondern auf die Hülfsbedürftigkeit seiner plötzlichen Gäste sah und es ihnen möglich machte, ein paar Stunden lang in Sicherheit zu ruhen.

Die Grenze ließ sich von hier aus durch das Gebirge in ein paar Stunden erreichen, und Eugenie und Heimlingen drängten von neuem sie zu überschreiten und im Nachbarlande einen ruhigeren Weg zu suchen.

So fuhren sie wieder weiter und gelangten endlich dahin, wo der Weg nach Dernot sich von der bisher verfolgten Straße trennte. Da jammerte Kunigunde noch einmal und Eugenie und Heimlingen widersetzten sich mit herben Worten der Weiterfahrt, da sie unterwegs in einer kleinen Waldschenke vernahmen, daß es in der Dernoter Gegend noch unruhiger zugehe als anderswo; sie erklärten, daß man Esperancens Eigensinn und Thorheit bereits viel zu viel nachgegeben habe, und Eugenie bemerkte in einem halb schroffen, halb wegwerfenden Ton, es sei Zeit, daß man sich von der Herrschaft eines phantastischen Kinderkopfes emancipire – sie seien wieder nüchtern geworden.

„Schlimm genug, daß Ihr Euch berauschen und betäuben ließet, wie Ihr’s waret,“ entgegnete Esperance kalt. „Macht es wie Ihr wollt, ich sagte Euch das schon gestern, in Heitersberg. Ueber den Vater, wie er jetzt ist, und über mich selbst bestimme ich, und wenn Ihr, die Tante und Du, meint, fortan – besser ohne uns zu sein“, fügte sie nach einem momentanen Zögern hinzu, „so trennen wir uns.“

„Fahrt zu!“ rief Eugenie erbittert aus, „hier rechts, gegen die Grenze.“

„Nach Dernot, Jonas,“ sagte Esperance kalt, in ihren Wagen steigend, und die müden Pferde zogen von neuem an.

„Kerl – hast Du den Befehl nicht gehört? Du unterstehst Dich –“ rief im nächsten Augenblick der Kammerjunker aus dem Schlage höchst entrüstet dem Kutscher, der sein Gespann dem voraustrabenden Esperancens auf den bereits tief dämmerigen Waldweg folgen ließ.

Der Mann, gleichfalls ein langjähriger Diener des Hauses, wandte sich vom Bock ein wenig zurück und erwiderte respectvoll, aber ohne Zögern: „Um Verzeihung, Herr Kammerjunker, ich diene dem Herrn Baron und unserem gnädigen Fräulein. Wo die bleibt, da bleib’ ich auch.“ –

„Dies ist nicht mehr zu ertragen!“ murmelte Eugenie voll bitteren Zorns und warf sich, den Shawl fest um die Schultern ziehend, in die Ecke zurück. „Sollen wir uns willenlos von einem kindischen Geschöpf und einem unzurechnungsfähigen –“ sie verschluckte das Folgende.

Aber Tante Kunigunde hatte das Wort nicht überhört und raffte sich plötzlich auf das Ueberraschendste aus ihrer Betäubung auf. „Mein liebes Kind,“ sagte sie ungewöhnlich scharf, „ich dächte, Dein unglücklicher Onkel dürfte allerdings die höchste Rücksicht von Dir erwarten. Esperance hat Recht – unser Platz ist unbedingt an seiner und ihrer Seite – der meine wenigstens gewiß, ma chère, – und bisher, leugne es, ma nièce, haben wir keinen Grund, das Kind kindisch zu heißen. Sie hat uns gerettet, uns arme Hasen.“

Sie fuhren weiter, immer tiefer in das Gebirg und in den Wald, der sich hier fast ununterbrochen über die Höhen und durch die Thäler breitete, und der Abend brach herein und die Sterne fingen an zu leuchten, mit mattem Licht den Weg erhellend, dem sie zu folgen hatten. Niemand begegnete ihnen und rings umher war es still; nur das Rollen der Wagen und das Rieseln der Gewässer, welche die wunderbar milde Luft überall den hier noch lagernden Schneeresten entströmen ließ, unterbrach das Schweigen. Sie mußten schon in der Nähe von Dernot sein, das sie diesmal freilich von der entgegengesetzten Seite zu erreichen suchten. Jonas glaubte die Gegend zu erkennen, die er vor vierzig Jahren, nach seinem Ausdruck, wie seine Tasche gekannt. Verändert hatte sich in diesen Revieren seitdem schwerlich viel.

Indem erhob sich der alte Bursche ein wenig von seinem Sitz und sah in den Weg hinaus, auf den eben durch das laublose Gezweig der alten Bäume der erste Mondenstrahl silberhell herabsank. Dann wandte er den Kopf etwas gegen den Wagen und flüsterte: „Da steht einer und guckt uns entgegen, Fräulein, und es mögen noch mehrere im Busch stecken. Es blitzt dort was – wenn’s Gesindel wäre, Fräulein –“

„Fahrt ruhig weiter,“ unterbrach ihn Esperance. „Erwarten kann uns hier niemand, und im Uebrigen haltet Eure Waffen bereit.“ Das leise Knacken eines Pistolenhahns bewies, daß das entschlossene Mädchen selbst der gegebenen Weisung zuerst nachkam. Dann zog sie die Decke höher über den stumpf hinliegenden Vater und ließ auf seiner Seite das die Vorderöffnung des Wagens schließende Fenster aus dem haltenden Riemen herab, während das an ihrer Seite geöffnet blieb.

Sie sah den nächtlichen Späher jetzt gleichfalls; da der Wagen nahte, trat er von der Straße an den Waldrand zurück, und im nächsten Augenblick sagte seine gedämpfte Stimme: „Halt! Wohin wollt Ihr? Ihr müßt Euch verirrt haben –“

„Burgsheim!“ sprach Esperance mit einem wunderbaren, nicht lauten Ton, und doch klang daraus etwas wie ein innerliches Aufjauchzen.

Der Mann hatte den Namen gehört. „Wer ruft mich?“ fragte er und sprang an den haltenden Wagen heran, den Kopf vorbeugend, um die Sprecherin zu erkennen. Das ward ihm nicht schwer, denn auch sie beugte das Gesicht aus dem Wagen, und auf der ein wenig freiern Stelle des Halteplatzes war das Nachtdunkel durch die Mondstrahlen zur Genüge gelichtet. „Um Gotteswillen, gnädiges Fräulein – Sie! – hierher!“ rief er hörbar erschrocken aus.

„Ich flüchte meinen armen Vater“, sagte sie.

„Hieher – nach Dernot?“ rief er von neuem.

„Ich mußte,“ unterbrach sie ihn. „Es war wie eine Stimme von oben, die es mich hieß. Und wenn der Vater Schutz suchen muß, wo soll er’s, wenn nicht bei seinem Kinde? – Was er besaß, scheint Alles verloren. Dernot hat er mir gegeben – vielleicht darf ich es uns erhalten.“

Burgsheim war ein paar Augenblicke still. Dann fragte er: „Und Ihr Herr Vater ist krank und bei Ihnen, Fräulein?“

„Ja, hier im Wagen und schlimmer als krank, körperlich und geistig gelähmt.“ Und das Haupt schüttelnd, fügte sie die leisen Worte hinzu: „Ich durfte das laut sagen, er weiß nichts von uns.“

Und wieder nach einer Weile sprach Franz zu ihr: „Sie haben vielleicht Recht gehabt, zu uns zu kommen, Fräulein. Vielleicht bringt Ihre Gegenwart die Ruhe und Vernunft zurück, denn ich hab’s erfahren: man denkt hier noch mit viel Liebe an die alte ‚Herrin von Dernot‘, und seit man Sie im vorigen Herbst kennen lernte, liebt man auch die neue und hängt an ihr. – Jetzt aber, zur Ruhe und in Sicherheit,“ brach er ab. „Ich werde Sie führen, die Stunde ist gut und der Weg auch, Sie können das Schloß im Geheimen erreichen und dort verborgen bleiben. Denn das Geheimniß mache ich Ihnen für Sie und Ihren Vater zu Pflicht,“ schloß er. „Sie riskiren sonst das Schlimmste: Wir müssen für Sie werben. Vertrauen Sie mir, Fräulein?“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_275.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)