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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Wehmuthsvoll gedenke ich dieser schönen Abende, in denen wir die alten Heldensagen aus Volksbüchern mitsammen lasen, bis die Mutter uns zu Bette schikte. Ach, sie waren bald vorüber; am 13 Februar 49 starb der Vater am Schlagfluß und wurde als Leiche heimgebracht. Nachher hab ich nie mehr mit Kindern gespielt. Ich blieb daheim, half der Mutter arbeiten, da unsere Mittel uns nicht erlaubten, einen Knecht anzustellen. Mein einziger Zeitvertreib war und blieb das Lesen. Ich habe nie eine andere Schule besucht, als die zu Schoppernau, wo der Lehrer damals jährlich 70 Gulden „Lohn“ erhielt und im Sommer als Maurer und Anstreicher im Schweise des Angesichts sein Brot verdiente.

Im Jahre 53 erhielt ich eine Nummer des Dorfbarbirs, um ein Stücklein Seife einzuwikeln. Ich las das Blatt, bestellte es und wurde dann auf die Gartenlaube verwiesen. Diese hat mir zuerst von unseren Dichtern und Denkern erzählt. Im Jahre 57 bekam ich Lust, die damahls bei Kotta erscheinenden deutschen Classiker zu bestellen. Das Geld dazu hab ich mir mit Holzziehen, Schindelnmachen und als Ziegenfellhändler verdient. Aber je mehr ich nun lernte, desto weniger paßte ich in die Welt, in der ich leben mußte. O, viel Kraft hab ich gebraucht zum Widerstand gegen die vom Pfarrer und Vorsteher wider mich gestimmte öffentliche Meinung. … Ich wurde verbittert; als ich im Jahre 58 zum erstenmal nach Lindau kam und nun wieder in die enge Heimath zurük sollte, blickte ich wehmütig über den Bodensee und suchte – mit allerlei Gedanken die Stelle, wo er am tiefsten sein mochte.

Die Liebe hat mich gerettet und mit meinem Schicksal versöhnt. Ich lernte in Au ein Mädchen kennen, das von seinem Bruder mancherlei gelernt hatte, und das wie wenige fähig war mich zu verstehen und Freude und Leid mit mir zu theilen. Das Haus dieses Mädchens, in dem noch sieben Geschwister lebten, war der Sammelplatz aller jungen Leute. Man schertzte und lachte, ich wurde ganz ein Anderer und lernte die wakern Wälder wieder schätzen und lieben. Ich fing an, unsere Sprüchwörter und Redensarten zu sammeln. Ich schrieb ein kleines Wörterbuch und staunte dabei selbst über den Reichthum unserer Mundart,[1] ich dichtete einige „Volkslieder“, die jetzt hie und da gesungen werden, und meine Heimath wurde mir immer lieber. Das Schwarzokaspale schrieb ich wie vieles andere nicht zum Zwek der Veröffentlichung, erst der Bruder meiner Frau hat mir Muth dazu gemacht.

Seitdem lese ich so viel mir Zeit und Geldmittel erlauben. Hier muß ich leider sogar die Zeitungen alle selbst anschaffen … Die Augsburger Allgemeine Zeitung halte ich mit einem Wirthe in Bezau, die Blätter für literarische Unterhaltung, Roman-Zeitung u. s. w. aber muß ich alein halten [dem ist seitdem abgeholfen]. … Jetzt beziehe ich die ausländischen Classiker (von Meyer) da ich sie leider nur in Uebersetzungen lesen kann. … Entschuldigen Sie den durch Sie so Glücklichen, daß er es schon wieder wagte u. s. w.“

Ich muß mit Gewalt abbrechen, so reizt es mich zu Mittheilungen aus seinen weiteren Briefen, die zunehmen an Gehalt und neuerdings auch an Heiterkeit. Aber es ist genug, um ungefähr sehen zu lassen, daß in dem Leben dieses Bauern ein modernstes – Heldenleben vorliegt, an dem sich staunend zu weiden das deutsche Volk ein Anrecht hat, die gelehrte Hälfte wie die nicht gelehrte. Sein ganzes Heldenthum ist freilich hier noch nicht zu übersehen, noch nicht mit welchen inneren und äußeren Kämpfen und Nöthen er sich herausarbeiten mußte aus einer Tiefe und aus Hindernissen, worin und worunter hundert Andere in gleicher Lage zu Grunde gegangen wären und gewiß Mancher schon zu Grunde gegangen ist, wie er dabei sich selbst umgeschaffen hat aus einem bloß Denkenden, Träumenden, der Welt Abgewandten in einen frischen Mann der kühnen und zähen That, der seinen ganzen reichen Geist nun einsetzt nicht für die eigene Ehre, sondern tiefbescheiden zum Besten Aller in den Aufgaben des Augenblicks und der nächsten Nähe, wie er, kaum fertig mit jenen ungeheueren Aufgaben (ein Achtundzwanzigjähriger und Einäugiger!), schon kühn und umsichtig daran geht, auch seine Landsleute heraus und herauf zu ziehen aus geistiger, sittlicher und socialer Noth, wie er dazu kämpft mit den entgegenstrebenden Gewalten über und mitten unter der Gemeinde, zu ihrer Fortbildung eine Lesebibliothek gründet gegen den Willen des Pfarrers, und sie selbst belehrt, zur Hebung ihrer Selbstständigkeit und des Ertrags ihrer Arbeit das neue Genossenschaftswesen praktisch einführt in die Erwerbszweige seines Ländchens, an einer Viehversicherungsgesellschaft arbeitet, Versammlungen abhält, Statuten verfaßt, und neben allem dem das Feld[2] und die Kühe selbst besorgt, und über allem dem als Dichter vorwärts strebt, so daß ihm jetzt schon die „Sonderlinge“ als in dem und jenem fremd geworden erscheinen. Und welcher kaum glaubliche Fortschritt erscheint dem Schwarzokaspale gegenüber in den Sonderlingen! jenes ist ein Idyll, diese ein rechtes Drama, mit entschiedenstem Hereinklingen des erhabensten Tragischen; jenes ist ein Lebensbild aus seinem Ländchen, in diesen wächst aus dem localen Charakterbilde ein deutsches Zeitbild heraus, in dem brennende geistige, sittliche, gesellschaftliche Zeitfragen mit echter Dichterhand behandelt und im tiefsten Sinne gelöst werden. Etwas heitere Lebensfülle vermißt der Leser vielleicht hie und da darin – kein Wunder nach dem furchtbar bittern Ernste, der diese Seele erzogen hat. Und doch, wie sie schon im Schwarzokaspale oft in reizender Weise anklingt, so schreibt er mir von einer tiefinneren Heiterkeit, die man dem neuen Werke, das er unter der Hand hat, schon im Entwurfe anmerken werde; von ernster, gediegener Lebensfülle aber strotzen auch die „Sonderlinge“, und echter Humor klingt auch da vielfach an.

Wie ich es dem Geschicke danke, daß es mich diesen Mann hat lassen kennen lernen, so muß es, denk ich mir, Tausende erfreuen, von ihm zu erfahren und künftig an ihn denken zu helfen. Unsere Vorfahren waren des Glaubens, aus ihrer Vorzeit her, daß schon dies Denken an einen ihm helfe und nütze; das liegt uns noch jetzt dunkel gefühlt im Hintergrunde, wenn wir beim Abschied zu einem Freunde sagen: „Denk an mich!“ Solches Denken an einen wird selten besser angewandt worden sein, als hier. Auch der Verleger der Gartenlaube hat schon an ihn gedacht und hat ihn, erwärmt von nur wenigem, das in Folge meines Redens von ihm durch Hörensagen an ihn kam, als Mitarbeiter für dies Blatt gewonnen, und Felder meldet mir darauf mit Freude – was? „Ich werde nun die meinen etwas schwachen Körper allzusehr anstrengenden sogenannten Würgerarbeiten, Holzziehen u. dergl., einen Tagwerker verrichten lassen, da solche hier für sieben Ngr. leicht zu bekommen sind. Ich selbst habe früher für diesen Lohn allerlei gethan, nur um die Classiker und die Gartenlaube zu verdienen.“ – Aber auch wenn er das lebensgefährliche Holz- und Heuziehen von den Bergen herunter über Abgründe hinweg, die nur durch Lawinen ausgefüllt sind, nicht mehr selbst besorgt - daß ein Mann, der Gestalten schaffen kann wie in den Sonderlingen Franz, der Senn, Barthle, Mariann, den Tag über mit Milch und Mist zu thun hat, das – ist nicht in der Ordnung, so gern er es auch macht. Ich kann mir keine Seele wieder denken, an die das Reale und das Ideale in so furchtbar schroffem Gegensatze herantreten, Vermittelung verlangend. Freilich hat er die Kraft zu dieser schwersten Aufgabe, die einem Menschen werden kann, das zeigt sein Thun und Dichten, – aber gewiß, die Zukunft wird ihm die Arbeit leichter machen, daß die edle Kraft freier werde für die höheren Aufgaben.

Leipzig, Ende März 1867.

Dr. Rud. Hildebrand.




Eine Fürstenwiege.


„An der Saale kühlem Strande stehen Burgen stolz und hehr!“ singt Franz Kugler’s altes Studentenlied, das die prächtigen, weitbekannten Ruinen von Saaleck und Rudelsburg meint. Aber noch gar manches denkwürdige Schloß aus alter Reichszeit findet der Wanderer, der von der Merseburger Au saalabwärts schreitet durch die reiche Niederung der Braunkohlen, des Salzes


  1. In einem andern Briefe äußert er: „Ich habe meine Freude an den Bildern, die bei unsern vielbedeutenden Witz- und Kraftworten vor mir entstehen und sich gleich zu regen und zu rühren anfangen.“
  2. Sie nennen es Feld, es ist aber nur Wiese und Wald gemeint.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_238.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2017)