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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

mit seiner Gestaltung nach dem Rheinthal, dem Bodensee, der Schweiz hin und ist von Tirol durch hohe Pässe geschieden. Die Leute aber sind von ganz anderem Stamm, anderer Mundart, die Tiroler bairisch von Stammesart, die Vorarlberger alemannisch.

Doch zunächst zu meinem Arzte zurück. Wir reisten zusammen weiter, die Berge hinauf in’s Oberland; es wurden eine Reihe Grundfragen durchgesprochen in Ernst und Scherz, und aus Allem klang bei ihm eine wahre Sehnsucht nach dem geistigen Deutschland da draußen, eine jugendliche Begeisterung für das große Vaterland, das sie wie hinter einer hohen Mauer für sich liegen fühlen; „ein deutscher Bruder aus Sachsen“ stellte er mich mit ganz eigner Wärme in Alberschwende beim Abschied einem Bekannten vor.

Im ersten Nachtquartier der Wanderung, Bad Reute, saß ich Abends mit zwei Schweizern, die für morgen mit mir wandern wollten, beim Tirolerwein. Als Vierter saß bei uns der Wirth, der Arzt, selbst ein Landeskind, obwohl er mir mehr wie ein aus Norddeutschland draußen Eingewanderter vorkommen wollte (hielt er doch kurze preußische Zucht mit Zubetteschicken und Lichtauslöschen). Als er uns nach unserm Programme für morgen fragte und wir den Schrecken als Ziel nannten, machte er uns mit einer gewissen Wärme den Vorschlag, wenn wir in Schoppernau ein Viertelstündchen Zeit übrig hätten, im ersten Hause links am Wege vorzusprechen, da würden wir einen interessanten jungen Bauer finden, Namens Felder, von dem jetzt eine Dorfgeschichte gedruckt würde; ein in Wien drunten lebendes gelehrtes Landeskind nähme sich ihrer an, Dr. Jos. Bergmann, der sich die Correcturbogen zuschicken ließe. Der Arzt brachte das selber vor fast wie ein fröhliches Familienereigniß des Ländchens, und für uns war das ja ein Fund, der uns das Interesse an Land und Leuten ganz eigenthümlich vertiefte und für morgen eine hohe Freude in Aussicht stellte. Ein Bauer selbst, der aus dem Bauerleben Bilder schriebe! Das ist ja wohl noch nicht dagewesen. Der muß es ja am besten können!

Trotzdem wäre dieser Besuch morgen schwerlich zur Ausführung gekommen, da wir dann verspätet und erlebnißsatt an Schoppernau vorüber gingen; aber mein Reisefreund Zufall griff auch hier ein. Die angesammelte goldne Reisestimmung brach nämlich auf der letzten Station vorher beim Mittagsmahle zu ihrer Blüthe aus. Es war in Au, dem letzten größeren Dorfe des Thales. Wer konnte dafür, daß da die Wirthin im Rößle ein Mahl aufsetzte, wie man es hier nimmer vermuthen konnte, daß der goldige Gumpoldskirchner so trefflich dazu stimmte und die drei Geister und Gemüther tiefer aufschloß, als es daheim zu geschehen pflegt; dazu Citherspiel und Gesang aus Jungfrauenmund, die in Lust und Ernst wahrhaft ergreifend das tiefste Leben vollends in uns aufregten, das eben von der Wanderung so frisch und schön bereichert war – durchs Fenster blickte groß und ernst der Didamskopf herein ins ausgetäfelte Herrenstüble. Da war denn Naturgenuß und Culturgenuß im vollendetsten Gemisch; auch Culturhumor fehlte nicht, da z. B. der Wirth mich einmal fragte: das Leipzig läge wohl in Frankreich? Es war eben eine jener Stunden, wo sich eine „Stunde“ über drei, vier Stunden hinzieht – aber sie hätte uns ohne den guten Zufall um die Hauptsache gebracht. Als einer von uns an den Schoppernauer Dichter dachte und nach ihm fragte, da fand sich, daß er selbst schon da war, wie bestellt; es war zufällig Sonntag und er saß in der Bauernstube nebenan. Herein gebeten kam er denn, fast scheu beobachtend, mit seinem Bierglase an unsere schwelgerisch aussehende Tafel, eine schmächtige Gestalt, nicht in der echten Landestracht, ein junger Mann in der Mitte der Zwanzig, mit hoher Stirn und klar ernstem Gesichtsausdruck, die Spuren von schweren Geisteskämpfen, ja Leiden in den festen, hagern Zügen, durch die doch beim Sprechen ein eigner Humor spielte, wie auch aus der klaren, männlichen Stimme tiefer Ernst und selbstsicherer Humor zugleich herausklangen.

Was wir zusammen sprachen, was er sprach, ist mir freilich größtentheils entfallen über der Fülle von Erlebnissen, welche die Reise und das übrige Jahr brachten. Er machte gefragt Andeutungen über seine Dorfgeschichte, über seine Lectüre, wobei Gotthelf, Auerbach, Schiller genannt wurden. Auch die sociale und geistige Stellung des Bauernstandes wurde berührt. Aber der Zufall, der das so künstlich gefügt hatte, hätte wohl mit unserer Benutzung der Gelegenheit unzufrieden sein müssen; wir konnten freilich auch nicht ahnen, wer eigentlich vor uns saß in der schlichten Tracht und Haltung. Als ich dann aber von der Reise heim gekommen und das Buch erschienen war: Nümmamüllers und das Schwarzokaspale, ein Lebensbild aus dem Bregenzerwalde, von Franz Michael Felder. Lindau, Stettner 1863 – so wurde es alsbald gekauft, und als ich nach längerm Zaudern (der Titel zog mich nicht an) auch zum Lesen kam, ja da fand sich ganz etwas Anderes, als ich erwartet hatte. Nicht eine Art Nachbildung von Gotthelf’s Stil, wie mir vorschwebte, sondern etwas ganz Eigenes, Neues. Vor Allem hatte man den Eindruck, daß der Verfasser in naivster Weise schrieb (wie Schiller das Wort naiv braucht), gar nicht an Leser dachte, am wenigsten an norddeutsche oder Romanleser vom Fach, höchstens an seine Landsleute, für die beiläufige Winke darin stehen, wie sie besser leben könnten als bisher. Dabei machte das Erzählte den Eindruck der vollsten Wahrheit oder Wirklichkeit in einer Weise, daß mir immer wieder das Gefühl kam: das kann ja gar nicht erfunden sein! Das Schwarzokaspale muß der Dichter selber sein! Beschlich mich doch dabei der Gedanke, der Dichter könne eigentlich keine zweite Geschichte wieder so schreiben, weil er so wahrheitsvoll nur eine haben könne, seine eigene. Die Geschichte selbst ist von der höchsten Einfachheit, eigentliche Verwickelung fehlt gänzlich, die Erzählung geht gleichmäßig fort, fast wie ein Gebirgsbach über mäßiges Steingerölle dahin plätschert. Und doch war ich davon ganz eigenthümlich innerlich entzückt, und nicht nur ich, auch Freunde und Bekannte, bei denen ich eifrig für Lesen des hier wie sonst wenig beachteten Buches warb, allerdings doch nicht alle, es fanden’s auch welche gar zu einfach.

Da ich nun zufällig zugleich bei der Fortsetzung des Grimmschen Wörterbuchs betheiligt bin und das Buch von schönen Belegstellen zu lexicographischem Gebrauch voll war, so machte ich Auszüge für das deutsche Wörterbuch. Und als der Fall das erste Mal vorkam, daß ich Stellen brauchen konnte, zufällig gleich fünf auf einer Seite (Band 5, Spalte 490), so fügte es der Zufall weiter, daß Felder dabei dicht neben Schiller zu stehen kam. Das sollte der gute Bauer sehen! fiel mir ein, als ich das vor mir sah. Ja, laß es ihn doch sehen! antwortete es in mir. Und ich schickte ihm den Bogen unter Kreuzband, zweifelnd ob das Blatt sich wirklich dort hinter finden würde in den Thalwinkel. Es erfolgte auch lange nichts darauf, ich hatte es schon vergessen. Da auf einmal, im März vorigen Jahres, kam folgender Brief an mich, der auf einmal helles Licht brachte. Ich ändere außer einigen Weglassungen gar nichts daran, und damit das der Leser sicher fühle, auch nicht an der Orthographie; wegen der Fehler, die dadurch stehen bleiben (wenn es Setzer und Corrector übers Gewissen bringen ihre Pflicht einmal zu verletzen), kann ich wohl den Leser und Freund Feldern mit der Erklärung beruhigen, die ich als Philolog hiermit abgebe, ich möchte sagen auf Amtseid: daß diese Fehler geschichtlich genommen sämmtlich keine Fehler sind, sondern Reste älterer Schreibweisen, die in frühern Jahrhunderten einmal Mode und Regel waren, im 18., 16., ja im 14. (z. B. das k für ck).

„Verehrtester Herr H.! Schon oft gedachte das Bregenzerwälder Bäuerlein der schönen Stunde, in der es das Glück hatte Sie in Au anzutreffen. Doch würde es wol nie gewagt haben, sich brieflich an Sie zu wenden, hätte nicht Ihre gütige Zusendung vom Juli v. J. ihm Muth gemacht, ja es aufgefordert, Ihnen für diesen werthen Beweis Ihrer Theilnahme recht herzlich zu danken.

Ich arbeitete nun noch mit mehr Lust als vorher. Ich benützte jeden Augenblick, den mir die Feldarbeit frei ließ, für meine Lieblingsbeschäftigung. Ich wünschte mit meinem „Bregenzerwälder Lebens- und Charakterbild aus neuester Zeit“ recht bald fertig zu werden, um Ihnen dasselbe mit der Antwort zu übersenden.

Villeicht hab ich mich zu sehr angestrengt, habe dem von der Bauernarbeit ermüdeten Körper zu wenig Ruhe gegönnt. – Ich wurde krank und meine Feder blieb länger als ein Vierteljahr unberührt liegen.

Jetzt, während es draußen stürmt und tost, sucht sich jeder auf seine Weise die Zeit zu verkürzen. Jetzt kann ich zuweilen ganze Tage am Schreibtische sitzen, und da erwacht dann wieder der alte Wunsch, der Welt ein Wenig von meiner lieben Heimath zu erzählen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_235.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2017)