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besucht, daß, wie der Berliner Witz behauptet, sich hier nur Liebende zum Rendezvous einstellten, weil sie sich vor jeder Störung sicher fühlten. Das ist jetzt anders geworden und der Andrang so stark, daß nur wenig Begünstigte ein Billet erlangen und von den mehr als sechshunderttausend Einwohnern, welche Berlin zählt, kaum zweihundert das Glück genießen, die Vertreter der deutschen Nation zu hören und zu sehen. Dieser Uebelstand ist um so beklagenswerther, weil die stenographischen Berichte nur ausnahmsweise in die Hände des Publicums gelangen, die Mittheilungen der Zeitungen aber blos ein verstümmeltes Bild geben und das gedruckte Wort niemals die gesprochene Rede in ihrer lebendigen Unmittelbarkeit zu ersetzen vermag. Die Zuhörer selbst gewähren ein interessantes Bild und bieten dem Beobachter hinlängliche Gelegenheit, die politischen Strömungen und die öffentliche Meinung kennen zu lernen. Hier sitzt ein wohlgesinnter, für Bismarck schwärmender Landjunker neben einem entschiedenen Demokraten, dort ein neugieriger Fremder, der seinen aufmerksamen Nachbar durch fortwährende Fragen nach den hervorragendsten parlamentarischen Größen stört, Freunde und Landsleute eines Deputirten, welche auf den Augenblick lauern, wo der Cicero ihres Kreises das Wort ergreifen und einen Triumph feiern wird, von dem sie in der Heimath erzählen können. Auch das weibliche Geschlecht ist hier vertreten und man muß in der That die Ausdauer bewundern, mit welcher diese Damen oft mehrere Stunden die drückende Hitze und das Gedränge ertragen. Bei wichtigen Verhandlungen und entscheidenden Abstimmungen nehmen die Tribünen lebhaft Theil, die gespannten Gesichter, die bald hoffnungsvollen, bald getäuschten Physiognomien, die unwillkürlichen Zeichen des Beifalls oder der Mißbilligung verrathen hinlänglich die innere Erregung und man kann darnach leicht auf das politische Glaubensbekenntniß der Einzelnen schließen.

Minder besucht ist die Diplomaten-Loge, wo man nur selten einen fremden Gesandten, einen höheren Officier oder einen jungen Attaché in untadliger Toilette und gelben Glacéhandschuhen sieht. Dagegen ist die sonst verlassene Hofloge fast immer angefüllt. Nur selten fehlt der Kronprinz, der mit großer Aufmerksamkeit der Debatte zu folgen scheint und meist von Anfang bis zum Ende den Sitzungen beiwohnt. Schwerlich wird ein Fremder in dem bescheidenen jugendlichen Officier mit den wohlwollenden, angenehmen, aber keineswegs imponirenden Zügen den tüchtigen Feldherrn und preußischen Thronfolger ahnen; eben so wenig wie in der anmuthigen, zwar elegant, aber einfach gekleideten Dame an seiner Seite die beliebte Kronprinzessin Victoria. Beide tauschen von Zeit zu Zeit einen Blick des Einverständnisses, ein vertrauliches Lächeln, wodurch sie ihr Interesse an den Verhandlungen verrathen. Auch der Prinz und die Prinzessin Karl von Preußen sind eifrige Besucher des Norddeutschen Parlaments, das jedenfalls sich in den hohen und höchsten Kreisen einer größeren Gunst zu erfreuen scheint als das preußische Abgeordnetenhaus. Von fürstlichen Gästen sieht man hier zuweilen die Großherzoge von Weimar und von Baden, von denen besonders der Letztere einen überaus guten Eindruck durch sein schlichtes, freundliches Wesen macht. – Gegenüber der Tribüne befindet sich die Journalisten-Loge, wo die Vertreter der Presse, darunter manche bekannte und interessante Persönlichkeit, mit der Feder in der Hand die Verhandlungen nachschreiben und redigiren; eine Arbeit, deren Schwierigkeit und anstrengende Mühe gewiß nur wenig Zeitungsleser ahnen, abgesehen von der damit verbundenen Gefahr, da selbst die wortgetreue Veröffentlichung der gehaltenen Reden nicht vor Verfolgung und Strafe schützt.

Unterdeß haben sich die Mitglieder des Reichstags allmählich zu der bevorstehenden Sitzung eingefunden, zum Theil ihre Plätze eingenommen, zum Theil verschiedene Gruppen gebildet. In der vordersten Reihe bemerkt man auf der rechten Seite des Hauses einige höhere Officiere in ihren Uniformen. Der Jüngste von ihnen, eine kräftige Gestalt mit einer offenen soldatischen Physiognomie, den dunklen Schnurrbart in die Höhe gedreht, in kleidsamer blauer Husarenjacke ist der Prinz Friedrich Karl, der siegreiche Feldherr in den Kriegen gegen Dänemark und Oesterreich. Mit militärischer Gewissenhaftigkeit übt er die Pflichten eines Deputirten und obgleich er meist mit der Rechten stimmt; bewahrt er sich doch die vollkommene Freiheit seiner Meinung, indem er nicht selten, wie z. B. bei der Frage über die Zulassung des Abgeordneten Moritz Wiggers, seiner besseren Ueberzeugung ohne jede Parteirücksicht folgt. Dort der ältere General, eine schlanke, etwas vorgebeugte Gestalt, auf der ein geistig feiner Kopf mit schlichten, grauen Haaren ruht, ist der berühmte Stratege von Moltke. Sein kluges, von zahlreichen Falten und Fältchen durchfurchtes Gesicht, der forschende, bald beobachtende, bald nach innen gekehrte Blick verrathen combinirenden Verstand und tiefes Nachdenken, mehr den gelehrten, sinnenden Rechenmeister als den praktisch ausführenden Krieger. Sein Gegenbild ist der tapfere General von Steinmetz, eine echte Soldatennatur, wettergebräunt, fest, gedrungen, mit straffer Haltung, trotz des Alters und der silberweißen Haare jugendlich frisch, in seinen Bewegungen und in der ganzen Haltung der Repräsentant militärischer Disciplin und Tüchtigkeit, mit einem naiven Anstrich, der sich unwillkürlich auch bei der Ausübung seiner jetzigen ungewohnten parlamentarischen Functionen kund giebt. Zwischen diesen beiden Gegensätzen nimmt der General Vogel von Falckenstein eine vermittelnde Stellung ein, indem er in seiner ganzen ritterlichen Erscheinung mit energischer Thatkraft eine seinem Rang entsprechende höhere Bildung zu verbinden weiß. Von allen diesen gefeierten Feldherren haben bis jetzt nur Moltke und Falkenstein Proben ihrer Beredsamkeit abgelegt, die andern scheinen nach den vollbrachten Thaten das Wort zu verschmähen, obgleich die großen Führer des Alterthums, ein Themistokles und Cäsar, nicht nur auf den Schlachtfeldern durch das Schwert, sondern auch in den Volksversammlungen und im Staat durch ihren Geist glänzten.

Weit zahlreicher als der Militärstand ist die hohe Aristokratie vertreten, welche vorzugsweise auf den ersten Bänken der rechten Seite ein ansehnliches Contingent von Herzögen, Fürsten und Grafen liefert. Wenn schon dieselben bis auf wenige Ausnahmen zur conservativen Partei gehören, so ist doch die Zeit und besonders das Jahr 1866 auch an unseren „kleinen Herren“ nicht spurlos vorübergegangen. Auch in ihren Ansichten und in ihrer politischen Stellung ist eine mehr oder minder bedeutende Wandlung eingetreten und macht sich die Spaltung bemerkbar, von der eben so gut die Conservativen wie die Liberalen in Folge der letzten Ereignisse ergriffen worden sind. Durch diesen inneren Zersetzungsproceß ist die sogenannte freie conservative Fraction entstanden, welche ungefähr die Stellung der englischen Tories einzunehmen sucht, überzeugt, daß ein starres Festhalten an den feudalen Grundsätzen früher oder später den Untergang des Adels herbeiführen muß. An ihrer Spitze steht der Herzog von Ujest, dessen staatsmännisches Talent gerühmt wird. Derselbe ist ein eleganter Herr, eben so sicher im Parlament, wie im Salon und in der Gesellschaft, wo er manchen Triumph gefeiert haben soll. Sein Vater war der bekannte Fürst von Hohenlohe, ein großer Musikfreund, der auf seinen Gütern in Oberschlesien eine förmliche Colonie von Musikern gegründet hatte und eine ausgezeichnete Capelle unterhielt. Auf derselben Bank sitzt der Herzog von Ratibor, einer der liebenswürdigsten Cavaliere, Verehrer der Kunst und selbst talentvoller Maler, der mit geschickter Hand während der Sitzung die hervorragendsten Mitglieder des Reichstages treffend ähnlich porträtirt. Seine Schwester, eine Prinzessin von Hohenlohe-Waldenburg-Schillingsfürst, hat ihrem früheren Zeichenlehrer, dem talentvollen Hofmaler Lauchert, aus Neigung und mit Zustimmung ihres erlauchten Bruders die Hand gereicht. Eine gleiche politische Richtung wie die beiden Genannten vertreten noch die Grafen Bethusy-Huc und Renard, dessen volles rosiges Gesicht einen höchst behaglichen Eindruck macht. Auch diese Herren scheinen den Spruch zu beherzigen, daß Reden Silber, Schweigen Gold sei, nur Graf Bethusy macht zuweilen eine Ausnahme, obgleich er keineswegs durch rhetorisches Talent sich auszeichnet.

Der Führer dagegen der streng conservativen Fraction ist Graf Eberhard von Stolberg-Wernigerode, der sich als Commandeur und Kanzler des Johanniterordens in dem letzten Kriege wahrhafte Verdienste um die Pflege der Verwundeten auf den Schlachtfeldern und in den Lazarethen erworben hat. Die eigentliche Seele der Feudalen ist ein Bürgerlicher, der bekannte Geheimrath und frühere Redacteur der Kreuzzeitung, Herr Wagener. Derselbe wurde 1815 geboren, studirte in Berlin die Rechte und arbeitete unter dem reactionären Präsidenten Senfft von Pilsach bei der Regierung zu Frankfurt an der Oder an den Meliorationsanlagen. Als Consistorialassessor in Magdeburg wurde er durch das Ministerium Schwerin im Jahre 1848 zum Austritt aus dem Staatsdienst veranlaßt, worauf er die

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