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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Ton, „Ihr habt mir nicht alles erzählt, gerade von der armen Euphemia wißt Ihr sicherlich noch viel mehr. Und die – sie ist ja zwiefach meine Ahnfrau! – die möchte ich gern ganz kennen lernen.“

Die Dämmerung hatte inzwischen so rasch zugenommen, daß der Hintergrund des Zimmers bereits dunkel war und selbst hier vorn, in der Nähe des Fensters, das letzte schwache Licht kaum noch hinreichte, die Gestalt und das Gesicht Frau Katharinens dem Auge des Mädchens sichtbar bleiben zu lassen. Die Züge und den Ausdruck konnte Esperance nicht mehr unterscheiden, aber die dunkeln Augen sah sie sich erheben – ernster und tiefer, meinte sie, als je.

„Ja, Fräulein – lügen kann ich nicht,“ klang die Stimme der alten Frau, „man erzählt sich noch mehr davon. Man sagt, Herr Julian sei zurückgekommen, der Baron habe ihn bei seiner Gemahlin gefunden und ihn erstochen. Ob es wahr ist, das weiß ich nicht, und zu Ihnen kann ich auch nicht davon reden. Gewiß aber ist, daß die Baronin zuletzt eine kurze Zeit hier ganz einsam lebte und, nachdem sie einen Knaben geboren hatte, starb, kaum dreiundzwanzig Jahre alt. Der Oberjägermeister hat darauf sein Kind zu sich genommen, und dieses – es war Ihr Urgroßvater – hat das Andenken seiner seligen Mutter stets in Ehren gehalten. Er hat die Herrschaft Dernot wieder auf ihren früheren Umfang gebracht, das Schloß neu emporgerichtet und es nicht selten bewohnt, und da er starb, beides seinem Sohn, dem Baron August, hinterlassen. Von dem ist es hernach an Ihren Herrn Großvater, des August älteren Bruder, zurückgefallen.“

Es war eine lange Zeit still im Zimmer und die Dämmerung wurde immer tiefer; da sagte Esperance leise: „Oos von Herzheim – so hat meine Mutter als Mädchen geheißen. Kanntet Ihr sie, Frau Katharina?“

„Ja, Fräulein. Als sie noch klein war, kam sie mit ihrem Vater wohl einmal zum Baron August – ein schönes, liebes, heiteres Kind. Damals haben auch Seine Excellenz, der Herr Vater, sie hier zuerst kennen lernen.“

Esperance war still zu der Matrone gekommen, noch stiller aber schied sie endlich von derselben, um die Verwandten wieder aufzusuchen. Die Worte des Müllers, die einen so tiefen Eindruck auf das Mädchen gemacht, hatten in der Erzählung der alten Frau einen Nachhall gefunden, welcher fast schmerzhaft durch Esperance’s Unbefangenheit und frohherzige Jugendlust hinzitterte. „Von der Not – das also meinte er!“ flüsterte sie vor sich hin, da sie die von einer Lampe jetzt nothdürftig erhellte Treppe hinanstieg und droben über den kleinen Vorplatz schritt. „Auf Dernot ist nie Jemand glücklich gewesen. Und nun ist’s mein, und nun muß auch ich –“

Sie brach ab und stand, wo der Corridor sich vor ihr öffnete, der an den bewohnten Gemächern vorüberführte und seit ihrer Ankunft Abends gleichfalls durch eine Lampe beleuchtet wurde. Unter dieser, so, daß alles Licht der kleinen Flamme gerade auf ihn fiel, schritt ein Mann in dem Gange hin, eine mittelgroße, mehr hagere als starke Gestalt und in dunkler Kleidung, welche ihren Träger den besseren Ständen zuzuordnen schien. Er ging rasch und so leicht, daß trotz der tiefen, rings herrschenden Stille kaum ein Tritt für das Ohr des lauschenden Mädchens wahrnehmbar wurde. Und das Haupt ein wenig geneigt, wie in Gedanken, schritt er so stetig fort, als sei der Weg ihm ein altgewohnter, und anscheinend so unbekümmert, als sei ihm die Beobachtung oder Begegnung eines Fremden völlig gleichgültig.

Die Mittheilungen der Zofe und Joseph’s, die Esperance vorhin kaum beachtet, kamen ihr plötzlich in den Sinn – war dies der Spuk der Einen und der Unbekannte des Anderen? – Und durch des Mädchens eben noch erstaunte Züge flog ein fast trotziges Lächeln: ein Spuk war das da nicht, sondern ein Wesen von gutem Fleisch und Blut, aber unbekannt war er ihr freilich, und – dennoch im Eigenthum der Herrin von Dernot?

Sie erhob den kleinen Kopf und ihr Auge blitzte: das sollte nicht sein! – Sie flog ihm nach, leichten Schritts und fast so unhörbar wie er – er war jetzt beinahe schon droben an jener Ecke, wo Joseph in der vorigen Nacht den Fremdling hatte verschwinden sehen. Weiter durfte er nicht, denn dort ging es in den wüsten Südflügel hinein und die Nacht lag voraussichtlich in diesen öden Räumen mit ihrem tiefsten Dunkel, so daß, selbst wenn Esperance sich hätte hinein getrauen mögen, daselbst von einer Verfolgung und Entdeckung keine Rede sein konnte. Sie öffnete die Lippen zu einem Ruf – da – hatte er dennoch ihren Schritt vernommen? – stand er plötzlich und wandte sich langsam ihr zu, und ein paar Augen schauten ihr entgegen.

Das Herz schlug ihr, aber sie nahm sich zusammen und trat ihm entschlossen näher. „Mein Herr –“ sagte sie.

„Herrin von Dernot – Du bist’s, ich kenne diese Züge!“ unterbrach sie eine tiefe, ruhige Stimme, und durch das blasse Gesicht flog ein leises Lächeln; „was kreuzest Du meinen Pfad, da ich Dir doch fern bleibe?“

Sie fühlte eine heiße Röthe in die Wangen und auf die Stirn steigen, die seltsame Anrede reizte sie zu einer herben Antwort. Und dennoch entrang sich ein tiefer Athemzug der Befriedigung ihrer Brust, als sie nicht fern hinter sich eine Thür aufgehen und gleich darauf Joseph’s Stimme rufen hörte: „Esperance, bist Du das?“

Einen Augenblick stand der Vetter neben ihr und indem sein Auge den Fremdling nicht allzu freundlich maß, sprach er hastig: „Was heißt dies? Ach, der Nachtvogel, glaub’ ich gar? Wer sind Sie, Herr, und wie tragen Sie’s, Fräulein von Treuenstein –“

„Fräulein von Treuenstein hat Niemand weniger zu fürchten als mich,“ fiel ihm der Mann in’s Wort, durch dessen Züge ein finsteres Lächeln glitt. „Niemand sollte ihr näher stehen, denn ich trage den gleichen Namen –“

„Leopold, Bruder Leopold!“ rief sie, seine Hand ergreifend, leidenschaftlich aus, „ist es möglich?“

„Ja, der bin ich, der Ausgewiesene,“ versetzte er, und wie sein Auge auf dem glühenden, liebreizenden Geschöpf da vor ihm ruhte, mußte es wohl milder werden. „Ich wollte die Leute hier, welche mich trotz des Befehls aufnahmen, nicht unglücklich machen und wich Euch aus, wie sehr mich auch mein Herz zu der kleinen unbekannten Schwester zog. Nun blieb ich dennoch stehen, Esperance, und sah Dich. Jetzt aber weiche ich auch.“

„Weichen?“ rief sie, ihn ungestüm umschlingend, leidenschaftlich aus. „Weichen, da ich Dich kaum gefunden, Du Unbekannter, Ersehnter, Geliebter? Wer wagt Dich zu vertreiben, wenn ich Dich halte?“ Und das Köpfchen erhebend, fügte sie halb lachend, halb weinend, jubelnd hinzu: „Sag’s noch einmal, Joseph, unlogischer Mensch, daß meine tolle Reise ein dummer Streich! Ich hab’ es wohl gewußt, daß ich auf Dernot das Glück finden werde, wie unglücklich auch alle die Anderen waren! Siehst Du, siehst Du! O Leopold, einziger Bruder, Dich hab’ ich hier gefunden und gewonnen!“




5. In blauen Tagen.

Die Entdeckung des nie gekannten und dennoch stets geliebten und ersehnten Bruders, in der Esperance neben der augenblicklichen, rein persönlichen Freude und Befriedigung eine Art von Schutz gegen all’ das alte, im kleinen Schloß hausende und über ihm brütende Unheil und gewissermaßen ein Pfand des eigenen Glückes finden wollte, schien in ihrer Wirkung auf alle Bewohner Dernot’s ein solches Vertrauen des enthusiastischen jungen Herzens wirklich zu rechtfertigen. Aus dem Spuk des Einen und dem räthselhaften, jedenfalls bedenklichen Fremdling des Anderen war der willkommenste und liebste Gast hervorgegangen; das Geheimniß, das wieder Andere verstimmt und mit Besorgniß erfüllt, war ohne Nachtheil für die Eingeweihten aufgeklärt worden; das Unbehagen, das Alle umfangen, das Träumen und Sinnen, das Dernot’s junge Herrin eingesponnen, die schwermüthigen Schatten, die sich durch das alte Haus lagerten und sich über die Menschen breiteten, Alles schien, und wie sich bald zeigte, nicht blos für den ersten Augenblick, verschwunden.

„Siehst Du wohl,“ sagte Esperance an dem Abend noch einmal, sie saß auf des wiedergefundenen Bruders Knie und hatte den Arm um ihn geschlungen, und ihr Auge blickte lächelnd und voll glückseligen Uebermuths zu Joseph hinüber, „siehst Du wohl, wie es mit Deinem dummen Streiche steht? Habe nicht ich uns vor einem solchen bewahrt, da ich nicht fort und nicht heim wollte als in Sack und Asche trauernde bußfertige Sünderin? Hab’ ich’s nicht gewußt, daß wir auf Dernot Lust und blaue Tage finden würden?“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 211. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_211.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)