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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Schnelligkeit und Heftigkeit losbrach, uns auf offener Straße erreichte und ziemlich durchnäßt in ein Wirthshaus am Wege scheuchte. Da war es aber schon sehr lebendig geworden und gab keine andere Zuflucht, als unter dem ungewöhnlich großen Vordache, das sich am Hause quer über die ganze Straße breitete, so daß darunter einige schwere Lastwagen sammt Gespann und ein paar Equipagen Platz fanden, deren Besitzer die Räume der Gastzimmer in Beschlag genommen hatten und verdrießlich über die Störung der Vergnügensfahrt mit Umschlagtüchern, Mänteln und Crinolinen behaupteten. Wir konnten von Glück sagen, in einer windgeschützten Ecke noch einen unbesetzten Klapptisch zu finden, an welchem wir einen stark ländlichen Imbiß aufgetischt erhielten und dann, durch Schottlands trefflichste Erfindung, den Plaid, gegen die kühle Regenluft geschützt, nicht ohne Behaglichkeit dem Klatschen der Dachtraufen zuzuhören, welche aus ein paar ungeheuerlichen Drachenmäulern wie Bäche niedergingen, und in den dichten Regen zu starren, der wie eine graue Decke über der ganzen Gegend hing.

Die Fuhrleute waren beschäftigt, an ihren Wagen allerlei zu ordnen und zu bosseln, die Pferde zu füttern und zu tränken; dabei ging ihnen ein alter Bursche zur Hand, der die Wasserkübel trotz des Regens am Brunnen füllte, den Thieren vorhielt und andere Dienste verrichtete. Ein abgeschabtes Tirolerhütlein, eine Joppe, deren brauner Stoff sich fast wie ein grober Filz ansah, ein schmutziges Hemd und fast farblos gewordene lederne Kniehosen bildeten den ganzen ärmlichen Anzug des Mannes, der es nicht zu fühlen schien, wenn ihm der Regen in den Nacken schlug und bei den Aermeln wieder herauslief. Es mochte einmal ein großer stattlicher Mann gewesen sein, jetzt war er vom Alter verkrümmt und verzogen, der Körper sah aus wie ein mit brauner lederhafter Haut überzogenes Knochen- und Sehnengebilde und auch das Gesicht machte davon keine Ausnahme. Aus den scharfen Zügen, die sich ansahen wie verwittertes Gestein, sprang eine mächtige gebogene Nase über einem schneeweißen Schnauzbart vor, und unter starken Augenbrauenbüscheln von derselben Farbe fuhren ein paar lebhafte Augen hin und wieder – der letzte Funken des Feuers, das einst in der ganzen Gestalt gelodert haben mochte. Von der einstigen Kraft zeugten auch die festen Reihen wohl erhaltener Zähne, zwischen denen er den unablässig glimmenden Pfeifenstummel ununterbrochen festhielt. Es war ein sogenannter Nasenwärmer, und was daraus aufrauchte, gemahnte an jenen Rollenknaster, von dem das Volk sagt, man bekomme für sechs Pfennige so viel von der Sorte, daß man ihn dreimal um den Leib wickeln könne.

Es zog mich an, den Alten zu beobachten, der sich, nachdem er seine Arbeit gethan, an einem Tischchen neben uns niederließ, und so schenkte ich den Erörterungen meines gelehrten Freundes nur halbes Ohr, der bei der Unmöglichkeit, irgend einen Naturgenuß von der Gegend zu haben, einen Ersatz darin suchte, uns die geschichtlichen Erinnerungen in’s Gedächtniß zu rufen, die an mancher Stelle derselben hafteten. In seinem Filzkittel saß dabei der Alte nebenan, rauchend – sonst aber unbeweglich; nur manchmal nickte er mit dem Kopfe, als wolle er zeigen, daß er aufmerksam zuhöre. Dabei ging ein eigenthümliches Lächeln durch seine Züge, als wisse er das Alles eben so gut oder gar noch besser, als habe er das Alles selbst erlebt und freue sich, Dinge erzählt zu hören, die er ob der Länge der Zeit schon vergessen.

Endlich ließ der Regen nach; schnell, wie es gekommen, verflog das Gewölk, im Scheine der durchbrechenden Sonne flimmerten alle Bäume und Gräser, als wären sie statt mit Wassertropfen mit Edelgestein behangen, die Fuhrleute spannten ein und zogen ab unter lustigem Peitschenknallen; die Equipagen mit den ebenfalls aufgeheiterten Touristen rollten davon und auch wir schickten uns an, den Wanderstab weiter zu setzen und Ränzel und sonstige Zubehör wieder aufzuladen, als der Alte herzutrat und sich erbot, ob er uns nicht das Gepäck tragen dürfe. „Ich bin ein so alter liederlicher (schwacher) Mann,“ sagte er, „der nimmer viel schaffen mag (arbeiten kann); ich muß ohnedem hinein nach Partenkirch’ – wärt’ mir net zuwider, wenn ich ein’n Tabakkreuzer verdienen könnt’!“

Das Anerbieten kam gar nicht ungelegen, aber wir scheuten uns, dem alten Manne unsern eigenen jungen und rüstigen Schultern gegenüber diese Last aufzuladen, und sprachen unsern Zweifel aus, ob er sich nicht etwas überbürde, dem er nicht gewachsen sei.

Mit einem Blick unsäglicher Geringschätzung musterte er darauf unser Gepäck. „Die paar Bünkeln (Bündel)?“ sagte er dann, „auf dem schnurebenen Weg! Wenn ich auch meinen guten Siebziger hab’, ein solcher Krachezer (Schwächling) bin ich doch noch nicht … ich hab’ wohl eh’ ein paar Zenten auf’m Buckel ’trag’n und das auf ein’ Weg, der ein bissel schiecher (schlechter) gewesen ist … um’s Können!“

Damit hatte er, ohne weitere Erwiderung abzuwarten, unsre Sachen aufgerafft und schritt rüstig voran; es blieb nichts übrig, als ihm den Willen zu lassen und zu folgen.

So ging es wohlgemuth dahin bis hinter das Dörflein Oberau, wo sich rechts die Straße abzweigt, um über den Ettaler Berg nach Ammergau hinauf zu steigen, und mit einmal das bisher verhältnißmäßig enge Thal sich breit und lachend aufthut, ein überwältigender Anblick. Das kurze Grün der Wiesen duftete stärker, der Hauch der erfrischten Wälder strich anmuthig darüber hin; nicht mehr zu fern winkte der Kirchthurm von Partenkirchen und drüber stieg das Wettersteingebirg in erhabener Ruhe grau, starr und gewaltig in den blauen Abendhimmel hinein, links hin, wo die letzten Nachzügler der Regenwolken hingen, flimmerte es wie ein schwacher Regenbogen, vom höchsten Grate der Zugspitze aber flammte das Kreuz.

Wir hielten an, all’ den Reiz vollends in uns aufzunehmen, den erquickenden Lufthauch recht tief einzuathmen und nach alter liebgewordener Gewohnheit in die Gegenwart als Staffage ein Stück Vergangenheit hinein zu zeichnen. „Wir stehen hier,“ sagte der Freund, „auf dem Zuge der alten Rottstraße. Als die Richtung des Seehandels noch nicht um das Vorgebirg der guten Hoffnung ging und die Waaren aus Ostindien noch über das mittelländische Meer, Venedig und durch Tirol verführt wurden, war es hier, wo zum Schutze des Verkehrs sich ein eigener Bund der Frachtmänner und Fuhrleute bildete, um die Verbindung mit Augsburg und den Transport der Güter dahin und nach den übrigen Handelsstädten Deutschlands zu erhalten und zu sichern. Aehnlich jenen der gegenwärtigen Posten bildeten sie an bestimmten Orten eigene Stationen mit Lager- oder Ballhäusern, worin die Güter so lange verwahrt wurden, bis so viele Fuhrleute beisammen waren, um einen Zug oder eine Rotte zu bilden, welche dann mit eigener starker Bedeckung die Waaren sicher weiter beförderte.“

Mehr als diese Erinnerungen zog mich das Gebahren unsres alten Trägers an, mit welchem auf einmal eine völlige Veränderung vorzugehen schien. Unmerklich war er von dem Straßenrande, an dem er sich niedergekauert, aufgestanden und herangetreten, um zuzuhören, ein Zug des innigsten Vergnügens erheiterte sein Gesicht, die unzertrennliche Pfeife fing an, darüber auszugehen.

„Gefällt Dir das, Alter?“ fragte ich ihn. „Hast wohl noch nie etwas davon gehört, wie es damals in der Gegend zuging, wo Du daheim bist?“

Der Alte maß mich mit einem Blicke, fast so geringschätzig wie jener, womit er das Gepäck gemustert hatte. „Wie soll ich nichts davon gehört haben,“ erwiderte er dann mit verschmitztem Lachen. „Was braucht man davon erst zu hören, wenn man selber dabei gewesen ist …“

„Dabei gewesen?“ riefen wir staunend. „Bei was willst Du gewesen sein, Alter?“

„Bei was sonst, als wovon Sie gerad’ geredt haben … bei der Rott’…“

Mein Freund warf mir einen bedeutsamen Blick zu: es war klar, wir hatten mit einem Halbverrückten zu thun. Dennoch war es nicht ohne Reiz, den Gedankengang des Alten kennen zu lernen.

„Du irrst Dich, Freund,“ sagte ich, „wovon wir sprachen, das ist schon vor mehreren hundert Jahren geschehen.“

Er schüttelte fast unwillig den Kopf und rief mit einem Schmunzeln mitleidiger Ueberlegenheit: „Gebt Euch keine Müh’, das muß ich doch besser wissen, als Ihr Herrn: Ihr seid ja noch viel zu jung dazu. Hab’ ich auch schon bald den Achtziger auf dem Rücken, meine fünf Sinne hab’ ich doch beisammen und denk’ es noch wie heut’, wie mein Vater mich zum ersten Mal mitnahm … ich war noch ein Bübel von zwölf Jahren und die ganze Rott’ kam in Ehrwald zusammen, drüben im Kaiserlichen und ist herüber gezogen über den Waxenstein und durch den Höllentobel …“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_182.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2017)