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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Der Kammerherr nahm seufzend seine Prise und schüttelte fast schwermüthig das kleine Haupt.

Als der Gast zur Ruhe war, Tante Kunigunde aber noch sehr unruhig und mit nervösem Händeringen in ihrem Zimmer hin und her ging, wurde sie durch den plötzlichen Eintritt des Bruders überrascht.

„Sei still und mache keinen Lärm,“ sagte er, da sie Miene machte, ihren Schreck laut werden zu lassen, in scharfem Tone. „Ich komme nur, um Dir zu zeigen, was ich heut’ Abend erhalten habe, und Dich zu fragen, ob Du das verstehst. Da, lies das einmal,“ fügte er hinzu, ihr den fürstlichen Brief reichend, sichtbar ungeduldiger von Minute zu Minute, da die würdige Dame vor Allem sich schamhaft in ein großes Tuch hüllte – den Kragen, der tagsüber ihren Hals noch über dem Kleide beschirmte, hatte sie schon abgelegt –, dann die Brille suchte, abwischte, aufsetzte und nun erst zu lesen begann.

„Mein lieber Baron von Treuenstein,“ schrieb der Fürst, „es wurde heute eine Schrift in meine eigene Hand gelegt, die ich Ihnen communiciren möchte, weil sie nicht nur Ihre Herrschaft Dernot betrifft, sondern auch Vorgänge und Ereignisse heranzieht, die, wenn sie wahr sein sollten, unter meinen und Ihren Vorgängern stattgefunden haben müssen. Mir ist von diesen Dingen gar nichts bekannt, und Ihnen wird es vermuthlich nicht anders gehen. Kommen Sie morgen zu mir, damit wir der Sache gemeinsam nachforschen und überlegen, wie man ein Aergerniß, aber auch eine Ungerechtigkeit vermeidet.

Excellenz, ich bin wie immer Ihr freundlich gesonnener

Wilhelm, H.“

Kunigunde ließ das Blatt auf den Tisch sinken und sah, unwillkürlich ihr Tuch zusammenziehend, den Bruder wie völlig betäubt an. Er hatte inzwischen seine Ungeduld überwunden und stand vor ihr in seiner gewöhnlichen, ruhigen, festen Haltung. Da ihr Schweigen aber gar zu lange währte, sagte er endlich mit festem, man hätte sagen mögen, eiskaltem Blick: „Verstehst Du das? Du mußt auch davon gehört haben!“

„Aber, gerechter Gott,“ brach sie jetzt aus und zitterte dabei so, daß das Tuch von ihren Schultern sank; „es war ja Alles in der besten Ordnung! Der Großonkel starb ohne Testament, der August hat niemals ernstliche Ansprüche gemacht. Er ging freiwillig fort und soll ja längst gestorben sein. Anders – anders ist es mir –“

„So, so,“ unterbrach er sie, und sein Blick war noch ebenso kalt und sein Ton frostig, beinah geschäftsmäßig, „daran denkst also auch Du. Ich that das anfangs auch, dann kam mir aber noch etwas Anderes in den Sinn, von dem Du vielleicht nicht gehört hast. Serenissimus schreibt hübsch vorsichtig, es ist daher gut, gegen alle Schläge gerüstet zu sein. Selbst Du siehst aber ein, daß hier von Säumen, von Ausweichen keine Rede sein darf. Ich muß zum Fürsten und kann nicht wissen, was weiter nothwendig sein wird; vielleicht muß ich gar nach –“ und seine weißen Brauen zogen sich für einen Moment fest zusammen, „nach dem Nest hinüber. Die Kinder muß ich Brose überlassen, – dies geht über Vaterpflicht und Vaterliebe hinaus. Du aber hier – halte Deine Sinne zusammen und laß nichts unbeachtet, man machinirt gegen uns. Melde mir Alles, schicke mir alle Briefe in unser Haus. Man wird dort stets von mir wissen. Und wenn die Kinder kommen,“ fügte er fast milde hinzu, „sage ihnen die Wahrheit und zwar recht ernstlich. Dann aber laß es auch genug sein. Adieu, Schwester.“

Am folgenden Morgen zur bestimmten Stunde fuhr der Kammerherr seufzend zur Residenz und weiter, und auch der Trost, den er anfangs in der Begleitung des Barons zu finden gemeint, wurde ihm verkümmert, denn Treuenstein sprach unterwegs fast gar nicht.




3. Ausgeflogene Vögel.

Droben auf der Höhe waren sie nun freilich, und unter anderen Umständen hätten sie sich auch des Platzes und der von ihm aus sich öffnenden Aussicht wohl erfreuen dürfen. Zur Rechten wie zur Linken breitete sich neben der Hügelreihe, deren höchsten Kamm sie glücklich genug getroffen, ein Thal aus, von dessen Fruchtbarkeit die Felder zeugten, die nun schon allerdings abgeerntet, hier und da aber auch bereits von Neuem bestellt waren, dessen Matten noch ein tiefes, sattes Grün zeigten, während die freilich schon vielfach gelichteten Waldstrecken in so frischem Laube standen, als sei der Herbst noch lange nicht bis zu diesen Revieren gelangt. Rechts herrschten diese Wälder vor, sie kletterten die Hügel hinan und stiegen auch hin und wieder auf der Gegenseite ein wenig hinab, so daß man nur durch die Lichtungen einen Ausblick erhielt auf einzelne Felder, Wiesen und neue Waldungen; links waren von ihnen aber nur noch vereinzelte Gruppen und Gebüschstrecken übrig geblieben, und der Blick schweifte ungehindert hinaus über die volle Thalweite bis zu ihrem Hintergrund von bewaldeten Hügeln.

Nach vorn hinaus, wo die Hügelreihe zu Ende lief, mochten sich die Thäler vereinigen. Man sah weit, weit hin über stille Gründe. Und immer enger wurde der Raum und immer enger, denn von beiden Seiten traten dort nicht mehr Hügel, sondern schon wirkliche Berge heran, und hier und dort ragte aus dem dunklen Grün ihrer Tannen eine kahle, rauhe Kuppe trotzig hervor. Und dann kamen höhere Gipfel und immer höhere – das Waldgebirge war also wirklich endlich vor ihnen, nach dem sie nun schon lange vergeblich ausgeschaut. Und die Luft war so seltsam klar, daß selbst das Fernste nahe gerückt erschien, daß sie an den Felsenstirnen drüben, die vom Sonnenlicht zum Theil noch scharf beleuchtet wurden, die Sprünge und Abstürze schroff hervortreten sahen, und trotz des Schattens, der dort herrschte, die fernsten Matten erkannten, die in schmalen Streifen sich zwischen dunklen Tannensäumen bergaufwärts drängten.

Allein von Menschen sahen sie nichts, und von ihren Wohnungen ließ sich weder nah’ noch fern etwas entdecken; es zeigte sich nirgends etwas, das einer Straße, einem wirklichen, häufiger benutzten Wege ähnlich gesehen hätte, denn den Waldpfad, auf den sie zuletzt gerathen waren, konnten sie kaum dafür gelten lassen, und wo sie von ihm zur Höhe hinaufgestiegen, war er ja auch anscheinend völlig zu Ende gewesen. Rechts aus dem Thal kam zwar eine Art von Fußsteig herauf und lief über ihre Höhe links wieder hinab; allein auch er schien nur wenig betreten zu werden und es mochte ihn vielleicht nur ein Forstmann benutzen, der das Revier beging, oder wer Beeren sammelte oder Kräuter. Die fragen nicht nach der Nachbarschaft der Menschen, noch nach Entfernung und Bequemlichkeit ihres Pfades. Und wie man auch horchte, nirgends ließ sich ein Laut vernehmen, war es doch selbst im Walde todtenstill.

Der Platz war in Wahrheit wundersam günstig gelegen und wie geschaffen zu einem Ruhepunkt für Jemand, der, müde vom Wandern, Zeit findet, ein wenig zu säumen, und neben den Gliedern auch Augen und Herz sich ruhen und erfrischen lassen will, Müde aber waren sie, die hier ruhten, das merkte man wohl, wenn man sie so lässig hingestreckt sah an der moosigen Wurzel der uralten Eiche, oder auf dem feinen Grase, das einen Theil des Hügels überzog. Und daß sie auch Augen hatten für das, was sich vor ihnen aufthat, und daß ihre Herzen sich des Zaubers bewußt waren, der sie umgab, das durfte man gleichfalls glauben. Da sie die Höhe erreicht hatten, war eine Stimme laut geworden, jung und frisch und mit innigem Klang: „O, wie schön! Wie zauberhaft schön! Lohnt das nicht alle Mühe?“ – Und eine andere, nicht minder reine, hatte hinzugefügt: „Ja – zauberhaft, das ist’s! Laß uns hier ein wenig säumen.“

Und daß sie das wirklich thaten, schon das sprach für ihre Müdigkeit nicht nur, sondern auch für den Zauber des aufgerollten Bildes; mancher Andere dürfte nach kurzer Umschau nur um so rascher weitergeeilt sein. Denn jetzt, da sie weit hinausblicken konnten, erkannten sie, daß der Schatten, welcher über die Gegend gekommen, wirklich den Grund hatte, den die Schwüle des Tages sie bereits hatte fürchten lassen: rechts, hinter den Waldbergen hervor, stieg das Gewitter höher und höher mit gewaltigen, düsteren Massen, die Sonne hatte es schon bedeckt und die Wolkenspitzen drängten sich schreckhaft schnell über den Zenith in den Osthimmel hinüber. Und immer schwärzer noch quoll es von drunten nach, und jetzt zuckte dort der erste Blitz. Den Donner freilich konnte man noch nicht vernehmen.

„Na ja, da ist’s! Dies fehlte uns noch gerade!“ sagte der junge Mann, der bei der Gesellschaft war, und erhob sich von der Eichenwurzel, wo er bisher geruht. „Ich habe von Anfangs an diese Thron- und Krönungsfahrt für eine exquisite Thorheit gehalten und mich laut und leise wegen meiner Schwäche gegen Euch angeklagt. Nun aber – en avant, Mesdames! Oder

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_179.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)