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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

steilen Graten der Aiguille du Goûté mußte ich jedoch einige Male – hervorspringender Felsen wegen – mittels des tief in den Schnee gebohrten Stabes, der beim Herabgleiten unser Steuer bildete, in eine neue Bahn lenken; dann ging’s flott weiter, daß der Schnee in staubigen Bällen neben uns hinabrollte. Bald standen wir wieder auf den bläulichen, zerrissenen Gletscherblöcken, über deren gewaltige und gefährliche Eistreppen wir gestern unter unendlichen Mühen heraufkamen. Statt aber diesen unbetretenen Pfad hinabzugehen und unsere Zelte zum Bivouac auf dem glatten Eise aufzuschlagen, zogen wir vor, unsere Schritte zu beschleunigen, denn wir dachten noch diese Hütte hier auf dem großen Mauleselfelsen zu erreichen. Allein es sollte anders kommen.

Als wir die aus Moränenwällen und Granitklippen gebildeten Schluchten passirten, von welchen die bedeutenderen scharfgeschnittenen Grate sich hinanziehen bis zur weithinleuchtenden Aiguille du Midi, schlichen am Himmel fahle Wolken einher, zogen über die Eiswüste bläuliche Schatten nach und sammelten sich droben um die Firsten der Tour du Tacul und um die Zinken des Col du Géant. Ich trieb zur Eile, damit wir erst über den berüchtigten Mur de la Côte, einen steilen hundertundfünfzig Meter hohen Schneeabhang, gelangten. Hatten wir erst seine in den harten Schnee gehauenen und aus schwindelnder Höhe in den Abgrund führenden Stiegen hinter uns, so war die gefährlichste Strecke des Weges überstanden.

Eine lautlose Ahnung zog durch die Natur, als erwarteten die Eiswälle, wie das schwarze Felsengebein, einen furchtbaren Angriff der Elemente; mir wurde es klar, daß sich heimlich ein Unwetter vorbereitete, um in wenigen Minuten aus den Klüften und Schneegründen hervorzubrechen. Umsonst trieb ich nochmals zur schleunigsten Eile; denn in der Ferne sah ich den gewaltigen Schneewall der Côte schon vor uns liegen; aber plötzlich sanken die Wolken rings von den Bergeshäuptern herab, und es erhob sich ein verworrenes Getöse, das wilde Gebrüll eines Sturmes, der aber keine bestimmte Richtung hatte, sondern in dem die Winde aller Weltgegenden tobend zusammenzubrausen schienen. Der Tag verfinsterte sich; wir athmeten dichten Schneestaub, der von den Höhen und aus den Tiefen herunter- und hinaufgefegt wurde. Nur mühsam konnten wir im tiefen Schnee noch gegen den erwähnten Uebergang vordringen, obgleich mit Sicherheit anzunehmen war, daß jenseit desselben, wo die Thalschlucht sich erweiterte und die Luftströmung von einem andern Gletscher heraufwehte, das Unwetter seine natürliche Grenze gefunden haben würde; denn es war uns wohl bekannt, daß der furchtbare Schneesturm nichts Anderes war, als ein außergewöhnlich starkes Gletscherkuxen, ein örtlicher Orkan, der bekanntlich jedesmal nur die Atmosphäre im engen Bereiche eines gewissen Gletschergebietes in Aufruhr bringt, während auf allen Seiten in der nächsten Nachbarschaft stilles Wetter waltet.“

„Hab’s aber doch verspürt, daß Ihr was abkriegtet,“ unterbrach ihn Dairraz; „als wir drüben waren, wo der Taconnygletscher sich mit dem Bessonsgletscher vereinigt, hab’ ich’s zum Herrn hier gesagt – und hab’ ein Vaterunser für Euch gebetet – aber es hat mich getröstet, daß Du dabei warest, Michel; Du kennst das Gebirge wie kein Zweiter unter uns.“

Michel Croz bestätigte es etwas geschmeichelt mit einem stummen Kopfnicken, wandte jedoch gleich dagegen ein: „Wenn die Augen mit Schnee verweht sind und die Gewalt des Sturmes Einen nach den Andern zur Erde wirft – da hilft alle Kenntniß des Gebirges nichts mehr.“

„Wie retteten Sie sich aber und wo blieben Ihre Gefährten?“ frugen wir Michel mit steigender Angst.

„Wir machten es, wie die Gemsen,“ antwortete er, „die in solchem Unwetter hinter den Felsen Schutz suchen. Wir umklammerten in der Noth die Klippe eines Felsengrates, die da einsam, wie ein Leichenstein, aus dem weiten Eisgrabe hervorragte. Hier hielten wir uns knieend fest und faßten – im Reiche des Todes, vom Verderben umbrüllt – einen Entschluß, den nur die Verzweiflung ersinnen konnte. Binnen wenigen Minuten war nämlich die Thalschlucht vor uns in eine viele Klaftern tiefe Schneemulde verwandelt. Die Entfernung bis zu der erwähnten Passage des Mur de la Côte konnte mit Sicherheit nicht angegeben werden und wir wußten daher nicht, ob unsere Seile – selbst wenn wir sie aneinanderknüpften – bis dorthin reichen würden; dennoch sollte es versucht werden „ob Einer von uns dieses ‚Vorgebirge der guten Hoffnung‘ erreichen könne, um dort das Seil, wenn es lang genug wäre, derart zu befestigen, daß sich die später Folgenden an demselben festhalten und so vor dem Versinken in die tiefzugewehte Thalschlucht bewahren könnten. Mir, als dem ältesten und kundigsten Führer der unglücklichen Expedition, kam der Pionierdienst zu; wenn das Seil ausreichte, so war er weniger gefährlich, als anstrengend, weil mich bei einem etwaigen Einsinken die auf der Klippe zurückbleibenden Gefährten ja jederzeit vermittels des um meinen Leib geschlungenen Seiles wieder herausziehen konnten. Und sie mußten dies recht oft thun, da ich schon wenige Schritte von der Felsenklippe einsank und meine Kräfte von Minute zu Minute abnahmen. Das Schlimmste aber war die Entdeckung der traurigen Gewißheit, daß das Seil lange nicht hinüberreichte und wohl noch mehr als hundert Fuß Entfernung zwischen seinem Endpunkte und der erwähnten festen Schneestiege blieb. Ich suchte durch Zeichen dies meinen Gefährten verständlich zu machen – ein allgemeiner Schmerzensschrei tönte als Antwort zu mir herüber und ich sah, wie einer der beiden Touristen, in der Absicht mir zu folgen, das Seil erfaßte und in den Schnee sprang, in dem wir durch diesen gewaltigen Ruck sicher Beide versunken wären, wenn ich nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, das an mir befestigte Seil zu lösen, so daß der tollkühne Engländer an ihm wieder emporgezogen werden konnte.

Ein Griff – da rollte das Seil hin, der letzte Faden, an dem mein Leben über tiefen Abgründen schwebte, die letzte Hoffnung zugleich für die Zurückbleibenden! Noch einmal gab die Verzweiflung mir Muth – ein Blick auf die Gefährten – und ich machte den tollkühnen Versuch, auf allen Vieren vorsichtig über die trügerische Schneedecke weiter zu kriechen, um so die bekannte Gletscherüberbrückung zu erreichen. Gott mußte mir die Leichtigkeit eines Vogels gegeben haben – denn wirklich! der kaum hingewehte Schnee trug mich und ich erreichte den Wall, welcher mit seinen eisharten Stufen den einzigen, aber höchst gefährlichen Uebergang in einen unabsehbar tiefen Abgrund bildet. Ich reinigte die zugewehten Stufen vom Schnee und trat ohne jede Hülfe den berüchtigten Weg an, den man sonst nur passirt, nachdem man vorsichtig an Rettungsseilen befestigt wurde. Es schien zu glücken – doch plötzlich, gerade auf der Höhe, wende ich das Auge zurück und, wie ein Schlag der eigenen Vernichtung, trifft mich der Anblick meiner unglücklichen Gefährten. Ein Gedanke – es war ein fürchterlicher Gedanke – schlimmer als Sterben: ‚Du verlässest sie, lebendig begraben in Schnee und Eis! Was erheischt deine Pflicht? Mit ihnen zu sterben, oder – dein Leben zu retten?‘ Ich blickte in den finstern Abgrund – eine eiskalte Luft, wie kalter Grabesschauer wehte daraus empor – und ich dachte – ‚wenn jetzt dein Fuß abglitte – wenn du straucheltest – Michel Croz! Dir wäre wohl!‘ –

Ich entschloß mich zu ihnen zurückzukehren, doch kaum hatte ich die hohe Côte verlassen, so sank ich tief in den Schnee; – ich merkte es wohl, warum er mich jetzt nicht mehr trug – ich hatte die Kraft und namentlich die ruhige Fassung verloren. Unter schweren Kämpfen tauchte plötzlich der Gedanke in mir auf: ‚Wenn es möglich wäre, daß mich die alten Füße noch hinabschleppten in’s Thal; wenn ich aus der Welt des Lebens Hülfe heraufsenden könnte – Hülfe!‘ das Wort entwand sich meinen Lippen wie ein Angstschrei, und wieder kletterte ich den harten Schneewall hinan und war bald jenseit des anderthalb hundert Meter hohen Mur de la Côte angelangt. Der Sturm schien ausgetobt zu haben; es war Friede in der Gletscherwelt und ich wanderte eilenden Fußes am breiten Schneeabhang des Corridor zwischen dem Mont-Mandit und den Rochers-Rouges dem großen Plateau zu, alle mir wohlbekannten nähern Pfade benutzend. So einsam war ich noch nie da gewandert – noch nie mit solcher Herzensangst!

Zu meiner fürchterlichen Lage sollte sich aber bald das gräßlichste Uebel gesellen: die Erschöpfung. Von unserm Proviant hatte ich leider nichts bei mir, dabei sank die Nacht herab und mit ihr das Ziel meiner Hoffnung. Was sollte inzwischen aus mir – aus meinen unglücklichen Gefährten werden? Ich eine Beute des Hungers, der Erschöpfung – sie ein Raub der Verzweiflung, die mit Anbruch des Tages vielleicht die ganze Reisegesellschaft dem Tode unter Schnee und Eis in die Arme trieb! Mit solchen Schreckensgedanken war ich über das Plateau gewandert und schleppte mich den von ihm auslaufenden Gletscher mehr als eine Stunde noch hinab. An seinem Rande sank ich ermattet auf einer Felsenplatte nieder; – ich konnte nicht weiter und wählte sie zu meiner Bahre.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 139. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_139.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)