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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

nicht mit ansehen, und sie entfloh nach Schweden. Bernadotte und Frau von Staël, die aus Frankreich verbannte Schriftstellerin, nahmen ihre Landsmännin gastlich auf, und Fräulein Georges blieb bis zum August des folgenden Jahres in Stockholm. Bernadotte gab der Künstlerin eine Sicherheits- und Ehrenbegleitung bis nach Braunschweig, wohin sie dem Könige von Westphalen, Sr. galanten Majestät Jerôme Napoleon, wichtige Depeschen bringen sollte. Jerôme empfing die Georges, wie man es von diesem Verehrer des schönen Geschlechts erwarten durfte, doch sandte er sie gleich zu seinem kaiserlichen Bruder nach Dresden. Napoleon hatte eben einen Sieg über die Verbündeten erfochten, und gab sich die größte Mühe dessen Bedeutung zu übertreiben, um den in Frankreich erschütterten Glauben an seinen Stern wieder zu beleben. Die Bulletins im Pariser Moniteur stellten den über die Verbündeten Heere erfochtenen Vortheil als eine vollständige Revanche für die Niederlage in Rußland dar. Die Aufschneiderei in den amtlichen Berichten sollte durch Veranstaltung von großartigen Festlichkeiten glaubwürdiger erscheinen, und so wurden denn auch die Schauspieler des französischen Theaters nach Dresden berufen. Nur Talma wurde ausgenommen, da es an einer seiner würdigen Schauspielerin fehlte. So wie Napoleon jedoch durch einen der Künstlerin vorausgeeilten Boten erfahren, daß diese auf dem Wege nach Dresden sich befinde, ließ er eiligst auch Talma dahin kommen.

Fräulein Georges sah ihren kaiserlichen Anbeter seit ihrer Flucht zuerst in Dresden wieder. Dieser hatte damals zu viel Sorgen und Arbeit, um mit der Schauspielerin einen alten Zwist auszutragen. Was von einer Napoleon’s unwürdigen Beleidigung der Georges in deren Reizen gefaselt wird, ist jedenfalls unwahr. Wohl aber erzählte die Künstlerin später, daß sie, nach einer Vorstellung in Dresden zum Kaiser gebeten, vom Imperator, der am Tische saß und Depeschen schrieb oder in Betrachtungen vertieft in der Stube auf und ab ging, während einer ganzen Stunde lang sich vergessen sah, was sie in eine um so peinlichere Lage brachte, je bequemer sie es sich gemacht hatte. In Dresden, so sagt man, schmachtete auch ein anderer Kaiser und noch ein drittes gekröntes Haupt in den Fesseln der üppigen Schönheit. Die Georges und Talma gaben, inmitten der kriegerischen Ereignisse jener Zeit, fünfzig Vorstellungen in Deutschland, und erst im Monat November kehrten sie nach Frankreich zurück. Ein kaiserliches Decret setzte Fräulein Georges wieder in ihre Rechte als Mitglied des französischen Theaters ein. Wie Fräulein Mars blieb sie ihren napoleonischen Sympathien treu, und auch sie erregte das Entsetzen der königlichen Anhänger, als sie nach der Rückkehr der Bourbonen bei irgend einer festlichen Gelegenheit am offenen Boulevardfenster mit dem napoleonischen Symbole, einem Veilchenstrauß, am Busen sich zeigte. Sie wurde verklagt und hatte von Herrn von Duras, dem Edelmanne des Königs, welcher den Theatern vorstand, viele Neckereien zu ertragen; sie blieb dennoch Mitglied des Théâtre français bis 1816, wo sie, einen erbetenen und erlangten Urlaub eigenmächtig um mehrere Wochen verlängernd, ihre Entlassung erhielt.

Fräulein Georges benutzte jetzt ihre Unabhängigkeit, um während einiger Jahre in England und den französischen Provinzen Gastvorstellungen zu geben. In London wurde sie, wie früher in Deutschland und Rußland, der Gegenstand der schmeichelhaftesten Ovationen als Weib wie als tragische Darstellerin. Fünf Jahre darauf wurde sie wieder nach Paris berufen, und Ludwig der Achtzehnte ließ zu ihren Gunsten eine Vorstellung des Britannicus in der großen Oper veranstalten, welche gegen vierzigtausend Francs einbrachte. Die Künstlerin aber weigerte sich, wieder zum Théâtre français zurückzukehren, und ließ sich im zweiten französischen Theater, dem des Odeon, anstellen. Zuerst trat sie in ihren classischen Rollen auf, ihre gewohnte Anziehungskraft auf das Publicum ausübend.

Aber erst als Harel, ein ehemaliger Präfect des Kaiserreiches, die Direction des Odeontheaters übernommen, begann die bei Weitem glorreichere Hälfte ihrer theatralischen Laufbahn. Ihr Talent erfuhr eine gänzliche Umgestaltung, und die romantische Schule verdankte dieser ihrer Jüngerin, wie später Fräulein Dorval, ihre glänzendsten Theatersiege. Das waren ihre besten Leistungen, diese Schöpfungen von übernaturgroßen Gestalten. Die classische Tragödie sollte dem modernen Drama Platz machen, das dem Studium Shakespeare’s seinen Ursprung verdankt und durch jene unnatürlichen Uebertreibungen sich kennzeichnete, welche eine nothwendige Rückwirkung des den Fesseln der matten Nachahmung des griechischen Theaters entsprungenen Geistes war.

Das Odeon war indeß kein günstiger Boden für diese exotische Frucht, und erst als Fräulein Georges mit Harel in’s Theater der Porte St. Martin übersiedelte, blühten die dramatischen Erzeugnisse der französischen Jungromantiker in ihrer ganzen Ueppigkeit empor: Lucrezia Borgia, Maria Tudor, Marguérite de Bourgogne, Jeanne de Naples; Isabeau de Bavière, die Marquise Brinvilliers und wie all’ die medusenhaften Erscheinungen heißen, welchen die Georges durch ihre gewaltige Schönheit und durch ihre eben so gewaltige Darstellungskraft Lebenshauch einflößte. Sie ward dabei unterstützt durch Frederic Lemaitre, den unvergleichlichen Schauspieler, der geschaffen schien, der Georges im Drama zur Seite zu stehen, wie einst Talma in der Tragödie. Sie galvanisirte Dramen zu künstlicher Belebung, die ohne sie niemals bis zur letzten Scene gegangen wären und die heute bis auf den Namen vergessen sind. So war sie die eigentliche Dichterin, und unter ihrem mächtigen Hauche schwollen diese Ausgeburten einer krankhaften Einbildung auf, wie jene wasserstoffgefüllten Thiere aus Kautschuk, während sie ohnmächtig zusammenschrumpften, so wie die erhabene Kunst der Georges verstummte. Victor Hugo suchte seiner Künstlerin durch Lobeserhebungen zu danken, was sein dramatischer Ruhm ihr schuldet, und das in den seinen Stücken vorgedruckten Vorreden niedergelegte Urtheil des Dichters, so bestochen dasselbe auch klingen mag, darf von der aufrichtigsten Kritik mit unterschrieben werden:

„… Sie geht nach Belieben und ohne jede Anstrengung von der zarten Leidenschaft zum Schrecklichen über; sie begeistert zu Beifall und rührt zu Thränen, sie ist erhaben wie Hekuba und rührend wie Desdemona.“

Die in dem ganzen Wesen der Künstlerin ausgesprochene Herzensgüte verlieh ihren schrecklichsten Schöpfungen etwas Weiches, so daß in diesen Ungeheuern, in diesen Riesinnen des Verbrechens die Frauennatur doch immer wieder zum Durchbruch kam und ihren Gestalten einen Reichthum, eine Mannigfaltigkeit gab, welche den Zuschauer in unbeschreibliche Bewegung versetzte.

Die Romantiker sind verstummt, das Drama ist zum Melodrama herabgesunken, sowie das Lustspiel zur unkünstlerischen Photographie der Aeußerlichkeiten des geselligen Lebens. Die Georges, die Dorval, Boccage sind zu Grabe getragen, Lemaitre ist ein trauriger Schatten, eine trübe Erinnerung glänzender Zeit geworden, und auch den Dichtern ist mit dem Glauben an das Phantasieleben der poetische Hauch ausgegangen. Der Realismus hat die Octave hinabgestimmt, und die dichterische Kraft, welche den realen Boden, der die Grundlage auch unserer idealsten Bestrebung geworden ist, ausfüllen könnte, muß noch erstehen. Wenn die Franzosen erst Shakespeare bei sich so eingebürgert haben, wie wir in Deutschland, den wirklichen, echten Shakespeare ohne französische Abschwächung, dann wird die dramatische Literatur in Frankreich wieder einen Aufschwung gewinnen, welcher jene Verschmelzung des Realismus möglich macht, wie sie das Drama der Zukunft zu bewerkstelligen hat.

Was die Georges so ganz besonders auszeichnete, das war ihre blitzartige Uebersicht des Gesammtcharakters der darzustellenden Persönlichkeit. Mit nie dagewesenem Instincte vertieft sie sich sofort in ihre Heldin, und die unübertroffenen Einzelheiten und Schattirungen, welche sonst die Frucht der Berechnung zu sein pflegen, erstanden natürlich und folgerichtig, daß es uns wie ein Naturerzeugniß, wie ein Zauber anmuthete. Ihre künstlerische Zuversicht dem Publicum gegenüber war keiner ihrer wenigst bemerkenswerthen Vorzüge. Dem als Buridan debutirenden, von den Zuschauern verhöhnten Melingue ruft sie bei offener Scene laut zu: „Fahren Sie nur fort, Sie machen es ganz gut!“ das Publicum wird aufmerksam, läßt sich umstimmen und bricht in Beifallsbezeigungen aus. Melingue’s Sache war gewonnen.

Bei einer Wettvorstellung mit der Rachel nahm ein Anhänger der letzteren sich heraus zu pfeifen. Fräulein Georges tritt mit der ihr eigenen Majestät vor die Rampe und ruft: „Das ist wohl nicht für mich.“ Nicht enden wollender Beifall, Blumen und Kränze, die auf die Bühne flogen, war die Antwort auf diese Frage. Die Rachel fühlte sich so entmuthigt, daß sie es verweigerte, der Verheißung des Programms gemäß noch in einem anderen Stücke allein aufzutreten. Frau Viardot-Garcia mußte an ihrer Stelle eine Scene singen.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_106.jpg&oldid=- (Version vom 3.3.2017)