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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

dar zur goldenen Hochzeit mit der Wissenschaft. Aber müssen sich nicht viele Andere mit als seine Schüler bekennen? Auch die Leser der Gartenlaube dürfen sein Ehrenfest mitbegehen, denn wer möchte sich nicht des noch rüstigen Lehrers erfreuen und sein Leben und Wirken sich nicht in’s Leben zurückrufen?

Leopold Ranke.

Von Leopold Ranke’s äußerem Leben ist freilich wenig zu erzählen! Daß er am 21. December 1795 zu Wiehe in Thüringen geboren, nach mannigfachen historischen, philologischen und theologischen Studien in Leipzig 1817 promovirt worden; daß er zuerst am Gymnasium zu Frankfurt an der Oder gelehrt, darauf 1825 als außerordentlicher Professor der Geschichte an die Berliner Hochschule berufen, dort bald Mitglied der Akademie der Wissenschaften, ordentlicher Professor, endlich Historiograph der preußischen Monarchie, Mitglied des Staatsrathes und Geheimer Regierungsrath geworden; daß er Königen nahe gestanden, mit hohen Orden ausgezeichnet, am Ende gar in den Adelsstand versetzt worden: dieser sein officieller Lebenslauf ist es nicht, was uns anzieht. Wir fühlen uns als das Publicum, mit dem er in freiem geistigen Verkehre gestanden; dieser Verkehr selbst und der Gewinn, der uns daraus erwachsen, das ist es, was wir heute mit unbefangener Dankbarkeit schätzen.

Fast alle unsere wissenschaftlichen Bestrebungen seit 1815 tragen einen historischen Charakter; mußte da nicht die reine Geschichte selbst eine ganz hervorragende Stellung einnehmen? Sie dahin zu erheben, war vor allen Anderen Ranke bemüht. Er verband nämlich mit dem Rufe des Historikers durchaus nicht das Amt, die Vergangenheit zu richten und die Mitwelt zum Nutzen künftiger Jahre zu belehren, sondern er stellte sich die offenbar weit schwierigere Aufgabe, einfach zu sagen, „wie es eigentlich gewesen“. Denn dazu bedarf es eines den ganzen Stoff umfassenden, für alles wahrhaft Bedeutende empfänglichen Blickes, wie einer gesunden und scharfen Kritik sämmtlicher Quellen. Beide Eigenschaften bewährte Ranke schon in seinem ersten Werke, der „Geschichte der romanischen und germanischen Völkerschaften von 1494 bis 1535“. Indem er die Romanen und Germanen Europas als ein Ganzes betrachtet, sondert er sie von allen übrigen Völkern, sieht in ihnen die Träger der Cultur und der allgemeinen Geschichte, welche ihm eben die Geschichte der ununterbrochenen Entwicklung menschlicher Cultur ist; er begründet kurz ihre Einheit aus ihren gemeinsamen Thaten im Mittelalter, um dann zur Darstellung ihres vielfach entzweiten und doch verwandten und verbundenen Lebens in der Neuzeit überzugehen. Dieselbe Aufgabe und ihre vollständige Lösung in seinen späteren Hauptwerken, als da sind: seine „Fürsten und Völker Südeuropas“, seine „französische“, seine „englische Geschichte“, immer vornehmlich im sechszehnten und siebenzehnten Jahrhundert, seine „deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“ und seine „neun Bücher preußischer Geschichte“. Wenn ihm noch vergönnt wird, nach Vollendung der englischen auch die scandinavische Historie hereinzuziehen, so wäre damit der große Kreis romanisch-germanischer Geschichten vom sechszehnten bis in’s achtzehnte Jahrhundert, wo ein neues Weltalter anhebt, geschlossen. Wir dürfen diese Werke, wie sie eine Einheit bilden, auch nur in ihrer Gesammtheit betrachten.

Vielleicht die Hauptfrage jener Zeiten ist die religiöse; in ihrer Behandlung gerade liegt Ranke’s größte Meisterschaft. Die deutsche That der Reformation, ihr Zug durch Europa, die gewaltige Gegenrüstung des Katholicismus, der Kampf der Bekenntnisse, hier der Sieg des einen, da des anderen, dort endlich Friede und Anerkennung, diese welthistorischen Ereignisse bilden den vornehmsten Inhalt, wie jener Epoche, so ihrer Darstellung durch Ranke. Ein zweites großes Moment, doch rein politischer Natur bildet in den Ranke’schen Geschichten der europäische Streit zwischen der spanisch-habsburgischen und der französischen Macht, ein drittes das Ringen der modernen Monarchie mit den ständisch-aristokratischen Gewalten. Letztere sehen wir in Spanien und Frankreich unterliegen, in England durch die Revolution die Oberhand gewinnen, während sie bei uns schon in der Reformationszeit die Territorialherrschaft an sich reißen und dem Kaiserthume gegenüber das Feld behaupten.

Und dabei erinnern wir uns alsbald, daß wir hier vor der Blüthezeit der absoluten Monarchie, der Zeit der großen Autokraten, der Höfe mit ihren Intriguen, der Cabinetspolitik, der Diplomatie stehen; daraus ergiebt sich denn die Weise der Arbeit für den Historiker. Die echten Denkmale der Verhandlungen selber, Actenstücke, Gesandschaftsberichte, Briefe muß er aufsuchen, die Gewölbe der Archive danach durchwühlen! Es ist dies vor und nach Ranke geschehen, aber Niemand hat vielleicht mit solcher Ausdauer, solcher Virtuosität aus Hunderten von Folianten, Tausenden von Actenstößen das Wesentliche sich zu eigen gemacht, wie gerade er. Er fühlt sich wohl in dieser Luft: „Man bedauere den nicht,“ ruft er aus, „der sich mit diesen anscheinend trocknen Studien beschäftigt und darüber den Genuß manches heitern Tages versäumt! Es ist wahr, es sind todte Papiere, aber sie sind Ueberreste eines Lebens, dessen Anschauung dem Geiste nach und nach aus ihnen emporsteigt.“

Da ist es nun für Ranke und durch ihn für die Wissenschaft

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_101.jpg&oldid=- (Version vom 3.3.2017)