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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

wer eine böse, wilde Denkungsart hat, etwas davon auch auf dem Gesicht geschrieben trägt. Ich will nicht behaupten, daß jene Leute Strauchdiebe oder noch Schlimmeres sind, doch – sind Sie schon lange in Paris?“

„Ziemlich lange, aber ich wohne im Herzen der Stadt und habe diese Gegend bisher noch nicht gekannt.“

„Hm, es kommt nicht Alles in die Zeitungen, ja, von Manchem erfährt sogar unsere tüchtige Polizei nichts. Ich möchte nicht, daß einem Landsmanne auf dem Heimwege Unheil widerführe. Einen derben Knotenstock gebe ich Ihnen gern, oder –“

„Unbesorgt, ich gehe nie ohne Stockdegen aus.“

„Das ist gut. Herr Landsmann, es giebt in Paris viel Glanz und Reichthum, aber auch viel Noth und Elend und – Verbrechen. Die Wohnungen und Lebensmittel sind eben doch zu theuer für die Hälfte der Einwohner. Da geschehen denn Räubereien und Mordthaten unter den geringeren Classen der Gesellschaft, Betrügereien und Schwindel in den höhern. Die große Weltausstellung soll freilich viele Wunden heilen; nun, wir wollen sehen!“

Es war schon dunkel, als ich den Gasthof verließ. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und in jener Gegend noch fremd, verirrte ich mich und stand plötzlich auf einem großen, öden Platze. Ich wußte nicht, sollte ich mich rechts oder links wenden, um zu meiner Wohnung zu gelangen. Unentschlossenheit liegt mir fern, also schritt ich tapfer darauf zu, irgend wohin mußte ich doch kommen und endlich einem Fiaker begegnen, der mich aufnahm und heimfuhr.

Jetzt ging der Mond auf, ich erblickte die Thürme einiger mir bekannten Kirchen und wußte nun, welchen Weg ich einzuschlagen hatte. Plötzlich, als ich um eine Ecke bog, sah ich in geringer Entfernung drei dunkle Gestalten. Es waren zwei Männer, welche mit einem Dritten rangen, der sie um Kopfeslänge überragte. Instinctiv zog ich meinen Degen aus der Scheide und eilte dem Manne zu Hülfe, welcher sich bisher nur mit seinen Armen löwenmäßig gegen die beiden Männer gewehrt hatte. Als dieselben meine blanke Waffe im Strahl des Mondes blitzen sahen, flohen sie; das Seil, mit welchem sie den Angegriffenen hatten binden wollen, war auf dem Boden liegen geblieben.

„Tausend Dank, mein Herr, Sie kamen zur rechten Zeit,“ sagte mein Geretteter, in dem ich zu meinem nicht geringen Staunen Albanus erkannte.

„Sie sind es, mein Herr?“ rief ich unwillkürlich aus. „Seltsam, Sie hätte ich für vollkommen sicher gehalten.“

„Ich weiß, was Sie damit sagen wollen, mein Herr,“ erwiderte er. „Sie halten mich für ein Mitglied der geheimen Polizei und haben folglich ein Vorurtheil gegen mich, gestehen Sie es nur.“

„Ich kann es nicht leugnen; konnte ein Mann von Ihren Naturgaben nicht einen andern Beruf wählen?“

„Wählen? Wie weit geht die Wahlfreiheit des Menschen und wie groß ist die unsichtbare Macht des Schicksals? Ich fühle mich ermattet; wollen Sie mich begleiten, so gehen wir in ein gemüthliches Restaurant und ich erzähle Ihnen meine Lebensgeschichte. Ich habe einmal Ihnen einen Dienst geleistet, vielleicht wäre wenige Stunden später der deutsche Arzt zu spät gekommen, Sie haben mir heute sicherlich das Leben oder, was dasselbe ist, die Freiheit erhalten; ich bin Ihnen großen Dank schuldig. Jene Feigen wollten mich berauben oder tödten, ohne Sie –“

„St! Welcher Mann ginge vorüber, wenn er Zwei gegen Einen sieht, der waffenlos ist?“

„Ganz richtig, dennoch danke ich Ihnen. Ich sehne mich, einem Manne, den ich achte, zu erklären, daß ich etwas Anderes bin als ein Spion oder Verräther. Wollen Sie mich hören und mein Geheimniß bewahren? Denn ich habe bemerkt, daß Sie mich in meiner letzten Verkleidung erkannten, und wünsche nicht, daß Sie davon sprechen möchten.“

„Ich begleite Sie, und keine Seele in Frankreich soll hören, was Sie mir vertrauen; auch Ihr Name soll streng verschwiegen bleiben, sollte ich jemals einem Freunde von Ihrem seltsamen Berufe, den ich jetzt fast errathe, etwas mittheilen.“

Was Albanus mir erzählte, ist Folgendes; ich lasse ihn selbst sprechen: „Mein Großvater väterlicher Seite war ein Deutscher, seine Gattin eine Italienerin, von welcher ich als Knabe Italienisch lernte. Meine Mutter war ein Pariser Kind, ihr Vater ein Franzose, ihre Mutter Engländerin, ich selbst wurde in Wien geboren. Ich besaß einen rastlosen Geist, viel Phantasie, aber wenig Lernfähigkeit, ich lernte von Eltern und Großeltern spielend gleichzeitig vier Sprachen, Lateinisch und Griechisch in den Schulen, außerdem aber mehr durch das Leben als durch Bücher.

Meine Eltern waren wohlhabend; kleine Reisen nach England und Frankreich abgerechnet, lebte ich stets in Wien, das angenehme Wiener Leben der dreißiger und vierziger Jahre. Der liebste Mensch auf Erden war mir ein Wiener, auch er lebte nur für mich. Ferdinand war mir Gespiele, Freund, Bruder, später auch mein Schwager, denn seine einzige Schwester wurde meine Gattin. Meine Großeltern starben, als ich eben in das Jünglingsalter trat, meine Eltern gleichzeitig an der Cholera, als ich neunzehn Jahre alt war. Das Jahr 1849 verminderte mein Erbtheil auf die Hälfte; ich hatte in Wien auf den Barricaden gestanden und mußte fliehen.

Ich schrieb mehrere Dramen, Herr, es ist Blut und Leben darin, aber ich brachte nicht eins davon zur Aufführung. Karl Stuart der Erste, Papst Sixtus der Fünfte, der Letzte der Piasten, interessante, aber verbotene Stoffe. Ich wählte andere Gegenstände, kam aber bald zu der Ansicht, daß bei allen Theaterdirectoren der Welt das Werk Nebensache, die Person des Dichters Hauptsache ist. Hat ein Autor, ich spreche von edleren, nicht vom Possenschreiber, keine hohe Protection, oder Verbindungen, Hülfe von der Presse oder viel Geld, so muß er auf Aufführungen verzichten.

Ich lernte bald genug die Welt kennen, dadurch ward ich Philosoph und jagte nicht mehr dem Unerreichbaren nach. Ich übersetzte, schrieb für Zeitungen, aber ich erwarb damit nicht genug, um den von mir zärtlich geliebten Meinigen eine angenehme Existenz bereiten zu können. Meine Phantasie ist immer geschäftig, ich würde eine ganze Reihe interessanter Romane geschrieben haben, wenn ich die Fähigkeit besäße, täglich mehrere Stunden still zu sitzen. Zufällig lernte ich einen Mann von großem Einfluß kennen, er brauchte meine gründlichen Sprachkenntnisse und trug mir einen Posten an, zu der Zeit, wo mein Ferdinand gestorben und ich vor Betrübniß nicht fähig war, irgend etwas als Schriftsteller zu leisten. Um meinen Posten genügend auszufüllen, bedurfte ich nur Muth, scharfe Augen, ein wenig theatralisches Talent und Sprachkenntnisse. Ich habe oft mehrere Tage nichts zu thun, dann wieder viel. Ich bekomme einen anständigen Gehalt, brauche weder zu lauschen noch zu denunciren, ich muß nur – so will es mein für die Sicherheit des Cäsars besorgter Vorgesetzter – überall, wo Er sich zeigt, in seiner Nähe sein, und damit es nicht auffällt, in verschiedenen Costumen. Ich habe die Augen offen zu halten nach allen Seiten hin, darin besteht mein ganzes Geschäft!“

„Ihr ganzes Geschäft?“ sagte ich lachend. „Etwas mehr thun Sie doch wohl, es ist ein wahres Wort, was Bulwer sagt: ‚Die Masse ist träge und stumpf, Einer muß sie leiten‘, und ich habe schon mehr als einmal gesehen, wie Ihr Händeklatschen und Vivatrufen die Menge anfeuerte, es Ihnen gleich zu thun.“

„Nun ja, Jeder, er stehe so hoch er wolle, bedarf den Beifall des Publicums; übrigens, da ich Niemandem schade, schäme ich mich meiner Wirksamkeit nicht, wenn sie auch, wie die meiner Collegen, eine geheime bleiben muß, und sollte es sich fügen, daß ich ein Attentat vereitelte, so würde ich froh darüber sein, denn der schnelle Tod dieses einen Mannes kann für die ganze civilisirte Welt große Folgen haben.“

Auf dem Heimwege sagte ich zu mir selbst: „Wieder einer jener Menschen, die man nur in Paris finden kann. Sein Beruf ist ein Zeichen der Zeit!“

Ueber so Manches, was mir bisher unbekannt geblieben, war mir jetzt ein helles Licht aufgegangen, und ich dachte nun wieder besser von dem Manne als vorher. Gesehen habe ich Albanus einige Male von fern, gesprochen seit jener Unterredung nicht wieder.



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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_095.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2017)