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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Hochzeit galt und vorher eine Brautschau und daß auch der Musikant, der sie so sehr beleidigt, eine Wahl getroffen habe …

Mit geballter Faust drohte sie dem Dahineilenden nach; als sie an einen Seitenpfad kam, lief sie, so steil er war, keuchend hinan, noch vor ihnen das Dorf zu erreichen.

In diesem war es indessen schon einsam und still geworden, das dritte Zeichen war verhallt, die Gemeinde war in der Kirche versammelt und harrte des beginnenden Gottesdienstes. Aber Minute um Minute verging, ohne daß der Pfarrer an den Altar trat, und die andächtigen Köpfe, besonders der Weiber, fingen an, sich gegen einander zu neigen und zischelnd nach dem Grunde der unbegreiflichen Zögerung zu forschen.

Niemandem aber schlichen die Augenblicke mit so peinlicher Langsamkeit dahin, als Sylvester, der sich bis an das Marmorgeländer vorgedrängt hatte, welches das Kirchenschiff von dem erhöhten Hochaltare trennte und von dem aus die ganze Kirche zu übersehen war. Er befand sich in einer sehr aufgeregten, höchst eigenthümlichen Gemüthsstimmung: im Augenblick der Ausführung erst stürmten alle die Bedenken auf ihn ein, die in jenem des kecken Entschlusses unbeachtet bei Seite geworfen worden waren. Es war etwas in ihm, das ihm sagte, die Base habe Recht gehabt mit ihrer Warnung, er sei daran einen Frevel zu begehen, einen Frevel am Hause des Herrn und in einer so ernsten Angelegenheit. Es engte und zwängte ihn auf der Brust, daß ihm fast der Athem verging; er wollte hinaus eilen in’s Freie, um frische Luft zu schöpfen, aber das Gedränge, das ihn umgab, machte das unmöglich und in den Knieen, die auf der Jagd bei manch verwegenem Klettersprung nicht gezittert hatten, begann es unsicher zu werden. Dazwischen mahnte er sich selbst wieder und schalt sich aus ob seiner feigen Kleinmüthigkeit und daß er nicht die Kraft habe, ein gegebenes Wort einzulösen, ein einmal begonnenes Unternehmen auch durchzuführen. Fast wollten in diesem Widerstreit die weichern Regungen die Oberhand gewinnen, als die Orgel einen langgehaltenen tiefen Ton anschlug, zum Zeichen, daß der erwartete Zug die Kirchenschwelle betreten habe.

Unwillkürlich schloß Sylvester die Augen, als die Mädchen an seinem Platze vorüberschritten; er wollte sie nicht eher sehen, als bis sie vor dem Altare aufgestellt sein würden. Desto größer war die allgemeine freudige Theilnahme der frommen Gemeinde, und die Prangerinnen, meist schöne Gestalten mit klaren Augen und offnen unverdorbenen Gesichtern, in ihren weißen Röcken, dunklen Miedern, mit den Rosmarinzweigen im Haar und den Aehrengarben, Blumensträußen und Fruchtgewinden in den Händen, gewährten auch einen Anblick, der wohl jedes Herz zu bewegen vermochte, das noch eine verwandte Regung für einfache Schönheit hatte, für schlichte Unschuld und kindergläubige Frömmigkeit.

Jetzt ward es still; der Lehrer droben auf der Orgel stimmte an: „Hier liegt vor Deiner Majestät – im Staub die Christenschaar“ – die Klingeln der Ministranten verkündeten, daß der Pfarrer zum Hochamt an den Altar getreten sei – die Prangerinnen mußten nun um denselben aufgestellt sein, im weiten Halbkreise …

Jetzt wagte es Sylvester, die Augen zu öffnen, einen furchtsamen Blick nach der Evangeliumseite zu werfen … schnell wie ein ertappter Uebelthäter wollte er wieder hinwegblicken, aber er kam nicht mehr los, sein Auge wurzelte fest und immer fester an der gesuchten Stelle. Er besann und fragte sich, ob er denn träume: er rieb sich die Augen, um recht klar zu sehen … die Gestalt, das Antlitz, das er erblickte, blieb und blieb – es war kein Traum, keine Täuschung … die fünfte der Prangerinnen an der Evangeliumseite, die zweite vom Altare her, war seine schöne Gegnerin, die Waldsängerin vom Kohlenmeiler …

Im ersten Augenblick durchfuhr es ihn wie Schrecken, blitzartig wie Flugfeuer zuckte es ihm durch Sinn und Herz und verzehrte mit Einem Schlage Alles, was darin gehaust hatte von hochmüthigen, hinterhältigen oder widerstrebenden Gefühlen, und wie entfesseltes Wasser aus einer Schleuße goß sich der siegende Strom der Liebe triumphirend durch sein ganzes Wesen.

Er stand und schaute und schaute und stand wieder und war wie versteint – darüber ward er gar nicht gewahr, daß bald nach dem Eintritt des Zuges auf dem Orgelchore arges Gepolter entstanden war; eilige Schritte kamen die Treppe herab. „Kein Wunder,“ sagte eine Bäuerin zu der andern, „es ist so voll und dunstig in der Kirch’, kein Wunder, wenn Einem nicht gut wird!“

Der, dem ‚nicht gut‘ geworden, war kein Anderer, als der Clarinetten-Muckel … ein halber Blick auf den Zug der Prangerinnen war für ihn hinreichend gewesen: die schneidige Kramer-Waben mit der hohen Schulter war die von ihm erkorene Ehrenführerin.

Der Gottesdienst ging seinen feierlichen Gang. Bald war der Segen über alle Frucht gesprochen, daß sie ergiebig sein möge und gedeihlich; die Prangerinnen hatten ihre Körbchen, Garben, Büsche und Kränze zierlich niedergelegt auf den Altar und die Stufen davor; das Ite, Missa war gesungen und auf den Weihrauchwolken verschwammen die letzten wehmüthig feierlichen Töne des Orgelnachspiels, das die Andächtigen aus der Kirche geleitete und ihnen nachklang, wie die Erbauung, welche ihnen darinnen geworden.

Wie ein weltlicher Widerhall begrüßten sie von draußen andere Töne – durch den klaren, angenehm sonnigen Herbstmittag klang es vom Wirthshause her hell und dumpf, schmetternd und schnurrend, Trompete und Baß, sich lustig einübend für den frohen Schluß des Festtages, den nachmittägigen Tanz. Die Einwohner des Dorfs ließen sich nicht verlocken, ihrer wartete die Mahlzeit am nahen eigenen Heerd; von den Auswärtigen aber ließ Mancher sich verleiten, vor der Wanderung Halt zu machen und eine kleine Stärkung mitzunehmen auf den Weg.

Vor der Kirche aber, da wo der Weg zum See hinunter sich um die Friedhofmauer wendet, da stockte der Menschenstrom; Alt und Jung drängte heran und bildete eine schmale Gasse, durch welche die Prangerinnen herangeschritten kamen; sie wanderten dem Pfarrhofe zu, denn die Köchin und Schwester des alten Pfarrers war es ja, bei der die Mädchen sich zu solchen Anlässen immer versammelten; verstand es doch Niemand besser, sie einfach und doch so recht sinnig zu schmücken, als das alte freundliche Fräulein, von der noch kein Mensch ein übles Wort gehört oder eine unliebe Miene gesehen. Der Pfarrer aber, der den Brauch wie manche andere sinnige Freude eingeführt hatte in der Gemeinde, ließ es sich nicht nehmen, die Jungfrauen nach dem Gottesdienst mit einem Stück Kuchen zu bewirthen und einem Gläschen süßen Wein, den er eigens deshalb verschrieb aus dem nahen Tirol.

Zuvorderst an den Stufen stand Sylvester, hinter ihm Muckel mit trostlos verzogenem Angesicht, halb versteckt in den Hollundersträuchen des Wegs.

Sylvester wollte die Erwählte noch einmal sehen; sie kam heran und schritt vorüber, schlicht und unbefangen und doch schüchtern ob der drängenden Menge; sie erhob die Augen nicht von dem Gebetbuch, das sie in den Händen hielt und um das ein Rosenkranz geschlungen war … des Burschen ganze Seele war in seinen Augen, sie schien ihn nicht zu gewahren und doch regte sich ein nie gekanntes Entzücken in ihm, denn trotz ihrer Achtlosigkeit glaubte er zu bemerken, daß im Vorüberschreiten eine leise Bewegung sie überflog und das Roth ihrer Wange sich tiefer färbte.

Er stand noch an seinem Platze und starrte nach dem Eingang des Pfarrhofes, in dem sie verschwunden war; Muckel hatte sich auf die Stufen niedergesetzt, er war so matt in den Beinen, als hätte er drei Faschingsnächte hindurch zum Tanze geblasen.

„Nun?“ sagte er endlich, „bist ganz verzuckt? Mir scheint, Du bist ganz wohl zufrieden mit dem, was ich Dir zugebracht hab’ … und Du hast wohl auch Ursach’ dazu!“

„Muckl …“ erwiderte Sylvester halblaut und haschte nach der Hand des Freundes … „ich weiß selber nit, wie mir ist! Ich kenn’ mich selber nimmer mehr … aber ich bin der unglücklichste Mensch auf Gottes Erdboden, wenn das Madel nit mein wird.“

„Dein werden! Warum sollt’ sie nicht? Du bist ein sauberer Bursch’, bist jung, reich – sie ist arm wie eine Kirchenmaus, sie wird mit allen zwei Händen zugreifen! Du kannst lachen – aber was fang’ ich an? An mir ist das Trumm’ aus’gangen!“

„An Dir?“ fragte Sylvester zerstreut.

„Etwan nit?“ rief der Musikant und fuhr sich, da die Haare fehlten, wie trostlos über die Glatze. „Hast etwan in Deiner Verzuckung gar nit einmal geseh’n, was mir passirt ist? Ich hab’ mich aufgeopfert wegen Deiner und jetzt soll ich das Bad austrinken für Dich? … Du hast wohl gar nit geseh’n, wer die Ehrenführerin war? Die Kramer-Waben mit ihrem Buckel und ihrer spitzigen Nasen! Und die soll ich heirathen? Lieber schau’ ich, wo der Schliersee am tiefsten ist …“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_050.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)