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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Stellen und die Morgenseite und die Umgebung fruchtbarer Felder und Wiesen. An manchen Orten, wo diese Bedingungen zusammenkommen, wie in der Nähe von Altenburg bei dem Bahnwärterhause Nr. 33, hat es Ansiedlungen von ungewöhnlichem Umfange angelegt und wühlt hier schlimmer als der rotheste Umstürzler.

Im Gebirge sieht man es aber nicht mehr, wahrscheinlich erschwert ihm der felsige Boden, der harte Untergrund die Anlage seiner Wohnungen; vielleicht bevorzugt es auch aus Erhaltungstrieb die fruchtbare Ebene, denn in den flachen Gegenden von Leipzig bis Altenburg und bei Riesa an der Elbe bevölkert es die Bahnlinie am liebsten. Die verschiedenen Baue sind zwar nicht unmittelbar neben einander, sondern man trifft die nächsten Wohnungen erst in ziemlicher Entfernung wieder an, weil sich die Thiere bei Anlage derselben nach dem Boden und der leichteren Ernährung richten. Gleichwohl sind sie als ein fortlaufendes Ganze zu betrachten und als ein Product der Neuzeit, denn beim Baue der Eisenbahnen waren sie noch nicht da; sie haben sich indeß im Zeitraume von einigen zwanzig Jahren über meilenlange Strecken ausgebreitet und werden bei der Schwierigkeit der Jagd, der Klugheit des Thieres und bei seiner großen Fruchtbarkeit auch nicht so leicht eine Verminderung erfahren.

Da nun, wie schon gesagt, auf den von diesen Geschöpfen bewohnten Plätzen, an der Bahn selbst, eine gewisse Ruhe und Sicherheit herrscht, die längst gewohnten vorbeifahrenden Züge mit den herausschauenden Menschenaugen ihnen aber keine Unruhe verursachen, so zeigen sie sich auch hier ohne Scheu, besonders wenn sie viele Junge haben, obgleich sie bei aller Spielerei ihre Sicherheit nie aus den Augen lassen.

An schönen windstillen Sommermorgen, wenn die Strahlen der hochstehenden Sonne anfangen die Halmspitzen und Blumenkelche abzutrocknen und der frische grüne Rasen einladend jeder Creatur entgegenschwillt, sitzen sie mit steifen Ohren, hie und da von einer Schaar neugieriger Jungen umringt, vor ihren Eingangsröhren und lassen sich von der Morgensonne bescheinen, während es in den nächsten Sträuchern herumhüpft und von Kräutern und Aestchen nascht oder an ihnen herum schnüffelt. Endlich fangen sie an zu spielen und sich mit der ihnen eigenen Behendigkeit herumzujagen, während die ängstliche Frau Mama ruhig sitzen bleibt, äugt, lauscht und für die Sicherheit der munteren Schaar wacht. Plötzlich klopft sie rasch mehrere Male hintereinander mit den Hinterläufen auf den Boden und verschwindet, von einem verdächtigen Geräusch verscheucht, in der nahen kleinen Erdhöhle. Ihr folgen kopfüber die nahen Kleinsten und gleich darauf die ganze Schaar.

Aber bald schaut da und dort ein Kopf mit hellen Augen aus dem Erdboden und nicht lange darauf kommt Eins nach dem Andern zögernd hervorgekrochen, um das lustige Leben noch eine Weile fortzutreiben. Züge kommen und gehen und stören sie nicht, Rauchwolken hüllen sie ein, es beirrt sie nicht, höchstens flieht ein Junges, die Uebrigen setzen sich, wie man es an den zahmen Kaninchen häufig sieht, auf die Hinterbeine, nehmen den Kopf zwischen die Vorderpfoten und fangen an sich wieder abzuputzen und zu waschen. Dagegen werden sie vor einer menschlichen Gestalt, vor dem plötzlichen Pfiff der Locomotive und vor jedem ungewohnten Geräusch am vorbeifahrenden Zuge augenblicklich verschwinden. An manchen Orten führen die Baue unter der Bahn selbst hin; die Erschütterung, welche die kleinen Geschöpfe und ihre Wohnungen demnach auszuhalten haben, muß eine ganz gewaltige, nur mit einem Erdbeben zu vergleichen sein, hauptsächlich wenn ein langer Güterzug darüber fährt. Von diesen langsam gehenden Zügen lassen sich derartige Beobachtungen überhaupt viel häufiger und leichter machen, als von den mit weit größerer Schnelligkeit fahrenden Personenzügen. Der bedeutende Luftzug der letzteren verscheucht Alles und wirkt höchst störend. Wie gewaltig er oft ist, kann man am besten daraus sehen, daß Vögel, welche quer über den Zug hinwegfliegen wollten und in seinen Bereich kamen, auf die Wagen herabgerissen wurden; eine Bachstelze legte auf diese Weise einmal eine unfreiwillige Fahrt von zehn Minuten zurück, ehe es ihr glückte wieder davon zu fliegen. Die schwerfälligen Krähen meiden daher auch sorgfältig diesen Luftstrom; nur die fluggewandte Taube scheut ihn nicht.

Den Vögeln und den andern freilebenden Thieren geben auch die als Schneeschutz angepflanzten dichten Fichtenzäune in der rauhen Jahreszeit eine bequeme oft benutzte Herberge und sind überhaupt im Winter, namentlich im Gebirge, die bevorzugten Schlafplätze des Rothhänflings, des Birkenzeisigs (des sogenannten Tschätschers) und anderer nordischen Wintergäste, sowie die fortwährende Zufluchtsstätte des Feldsperlings, des Ammer u. a. m., im Sommer und Frühling aber die Brutplätze aller dichtes Gestrüpp liebender Vögel. Der dreiste Ammer sitzt oft unbeirrt um das Wagengerassel auf den Telegraphendrähten und läßt sich weder durch den Luftzug noch durch den Rauch im Vortrage seines einförmigen Liedchens stören.

Der klugen Saatkrähe darf hier auch nicht vergessen werden, denn sie fühlt sich zu manchen Zeiten fast unwillkürlich zur Bahn gezogen, und ihrer Neugierde ist es gelungen, den jetzigen Verkehrsanstalten einen ganz neuen Erwerbszweig abzugewinnen und eine Nahrungsquelle zu entdecken, die sogar den meisten Naturforschern noch unbekannt sein dürfte. Im Winter, wenn Schnee und Eis den sonst stets offenen Tisch der Natur selbst diesen pfiffigen Vögeln und Allesfressern unzugänglich gemacht haben und sie der Hunger in Städte und Dörfer treibt, sitzen die Saatkrähen an der Bahn auf den nächststehenden Bäumen, oder gehen mit wichtiger Miene, trotz nagendem Hungers, auf den benachbarten Feldern umher, den nahenden Zug mit größter Aufmerksamkeit betrachtend, wobei sie den Kopf in drollig neugieriger Weise zur Seite biegen und schelmische Blicke auf den kommenden werfen. Kaum ist aber der letzte Wagen an ihnen vorüber, so erhebt sich krächzend die schwarze Schaar und eilt mit hastigem Flügelschlag auf die wieder einsam gewordene Bahnfläche. Hurtig suchend hüpft sie auf den Schienen herum, oder geht, emsig spähend und mit dem Schnabel Alles ernsthaft untersuchend, an den Schienen hin und her, zuweilen einen Gegenstand aufhebend und verschlingend. Das Schütteln und Rütteln des Zuges mag hin und wieder ein Körnchen aus den Wagen fallen lassen oder durch einen kleinen Spalt gedrängt haben. Aber auch aus den Achsbüchsen wird zuweilen das darin befindliche Rüböl mit Schmutz vermischt herausgespritzt und geschleudert; die Kälte macht aus diesen Tropfen kleine zähe Kugeln, die das scharfe Auge der Krähe auf dem weißen Schnee entdeckt. Doch nur im Winter, wenn es nichts Besseres mehr giebt, verschlingt sie diese ölige Speise.

Die Schwester der Saatkrähe, die sogenannte Dohle oder Thurmkrähe, hat sich in den Viaducten und Brücken häuslich eingerichtet; die verschiedenen zur Lüftung und zum Wasserabfluß dienenden Maueröffnungen und Löcher sind ihre luftigen, schwer zugänglichen Wohnungen. So hatte sie unter Anderem in der Zschopaubrücke zwischen Waldheim und Döbeln in Sachsen und in der von den Preußen im letzten Kriege zerstörten Brücke bei Ostrau besonders zahlreiche Nester. Die Dohle umkreist jetzt nicht mehr allein die alten Kirchthürme und die zackigen Gipfel unserer ehrwürdigen Dome, auch um die schlanken Pfeilerbauten der kühngeschlagenen Eisenbahnbrücken schwingt sie sich leichten Fluges in anmuthigen Wendungen. Der Thurmfalk beginnt ebenso, in diesen von der ungeheuren darüber hinziehenden Last durchzitterten Bauten seinen Horst aufzuschlagen; die kühnen Segler der Lüfte sind herab in’s Thal gestiegen. Selbst die licht- und menschenscheue Eule hat die poesiereichen Burgreste und einsamen dunklen Schluchten verlassen, um in der vom geschäftigen Gewühl und Geräusch durchbebten und Abends hell erleuchteten Bahnhofshalle ein neues Leben zu führen.

Das gewiß auffällige Ereigniß einer solchen Eulen-Umsiedelung hat sich in Leipzig selbst zugetragen, und zwar auf dem bairischen Bahnhofe. Dort hatten sich die Sperlinge und auch die Tauben in dem Balken- und Fachwerke des Daches der großen Bahnhofshalle so zahlreich angesiedelt, daß sie den Passagieren durch ihren herabfallenden Unrath und den beständigen Lärm beschwerlich wurden und kein gegen die lustige Gesellschaft ergriffenes Mittel recht anschlagen wollte. Da erschien eines schönen Tages oder vielmehr eines Abends eine Schleiereule, siedelte sich fest an, bald war ein Paar zusammen und diese nächtlichen Häscher übten dann zusammen das Amt der heiligen Hermandad so nachdrücklich unter dem scandalsüchtigen Spatzenvolke aus, daß Ruhe und Friede wurde. Auch die Tauben, durch die gegen sie allnächtlich geführten blutigen Angriffe geängstet, zogen aus, und was von Sperlingen da blieb, retirirte in die unzugänglichsten Ritzen und Löcher. Der Horst dieser Raubvögel ist in dem südöstlichen Winkel der Halle, wo sie unter dem speciellen Schutze des thierkundigen Inspectors stehen. Dadurch ist es der Frau Eule auch möglich geworden,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_042.jpg&oldid=- (Version vom 26.2.2017)