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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Das Thierleben an der Eisenbahn.


Eine der interessantesten Erscheinungen der Neuzeit erkennen wir in der Art und Weise, wie die freilebenden Thiere sich dem heutigen Culturleben gegenüber verhalten. Wir sehen viele derselben den stillen grünen Wald, die friedlichen Fluren, wo früher Nahrungstrieb und ererbte Gewohnheit sie sich heimisch fühlen ließen, jetzt mit dem Aufenthalt in der Nähe der geräuschvollen modernen Schöpfungen vertauschen; hier suchen sie in ganz neuer Umgebung ihren Unterhalt und lassen sich sogar unter oft recht erschwerenden Umständen häuslich nieder. Dies Alles bietet viel Anziehendes, besonders dem Thierfreunde, welchem die Thiere alle eben nur „jüngere Brüder“ sind, mit Geist und Verstand von der Mutter Natur begabt so gut wie das sternenmessende aufrechtgehende Geschöpf, der Mensch.

Als allenthalben der Eisenbahnbau begann, sah mancher eifrige Jäger und Grundbesitzer mit verbissenem Groll auf die sein Besitzthum durchwühlenden Erdarbeiten, welche dem Dampfwagen einen Weg bereiten sollten. Blutenden Herzens schaute er den durch die Arbeiter und ihr reges Treiben verscheuchten Hühnern und Hasen nach; vor seinem Geiste stand schon das schreckliche Bild des Augenblicks, wo durch den einem Sturmwind gleichenden Bahnzug alles thierische Leben aus der Gegend hinweggefegt sein würde. Im Anfange war auch das schnaubende, dampfende Ungeheuer mit dem markerschütternden Schrei und den windschnellen Füßen eine schreckliche und beängstigende Erscheinung, welche die freien Thiere rasch in ruhigere Gefilde trieb. Aber gar bald erkannten die eingeschüchterten Thierseelen in dem schwarzen Riesenpferde mit seiner polternden Wagenreihe eine friedlich vorüberziehende Colonne, die regelmäßig kommt und geht und Niemandem Leid zufügt. So wurde dem anfangs fast gespenstischen Zuge durch die Gewohnheit nach und nach das Schreckhafte genommen. Die Locomotive versetzt heute selbst den Hasen in keine Aufregung mehr; ruhig liegt er in der nahen Ackerfurche und läßt den Zug ohne das geringste Zeichen der Angst vorübertoben, dann und wann hebt er höchstens den einen Löffel etwas empor, um sich zu vergewissern, ob der Lärm auch der wohlbekannte ist. Sehr häufig hat er sein Lager in den mit Gebüsch bewachsenen trockenen Bahngräben, wobei es sich zuweilen ereignet, daß der Locomotivführer einen Hasen, welcher sich in einem solchen Lager aufgerichtet hat und noch erregt und gestreckt dasitzt, zweifelhaft, ob er bleiben oder fliehen soll, mit den an der Seite der Maschine befindlichen Probirhähnen voll Wasser spritzt und dadurch natürlich in die eiligste Flucht treibt. Dies mögen indessen noch Junge sein oder Halberwachsene, denn die Alten wissen, wie bekannt, die Gefahren gut abzuschätzen und bleiben gewöhnlich ruhig liegen, es mag vorgehen was will, sobald es nur nicht ihrer Sicherheit zu nahe tritt. Die Dampfpfeife ist jedoch den zartbesaiteten Ohren Lampe’s stets ein unausstehlicher Klang geblieben und er ergreift fast immer sein Panier, wenn er, im Winde liegend, ihren scharfen Ton vernimmt.

Zur Zeit der Liebe, welche in allen Hasenherzen hoch empor zu flammen pflegt, besonders im Frühjahr, müssen freilich manche der Entbrannten ihr Leben auf der eisernen Schiene lassen, wenn sie in hitziger Verfolgung irgend einer Schönen nach ihrer Gewohnheit toll darauf losrennen, dann bei ihren Kreuz- und Quersprüngen auch auf die Bahn und unter die Räder eines Zuges gerathen. Oft büßen sogar zwei oder drei der edlen Krautjunker zusammen auf diese leichtsinnige Weise ihr Leben ein.

Nach dem Hasen verdient das Rebhuhn erwähnt zu werden, weil es, das Unglück des Hasen theilend, wie dieser einer eifrigen Verfolgung unterliegt und dadurch höchst scheu und furchtsam geworden ist; aber gerade das Rebhuhn benimmt sich in der Nähe der Bahnen und bei dem Nahen eines Zuges mit einer wahrhaft staunenswerthen Unbefangenheit, ja beinahe Dreistigkeit und übertrifft darin wohl alle zahmen Thiere, den Hund etwa ausgenommen. Es sieht allerliebst aus, so ein Völkchen Hühner zu beobachten, welches unmittelbar drei bis vier Schritt vor den Rädern der nahenden Maschine geschäftig über die Schienen trippelt, in den Bahngraben hinabläuft, hier ruhig stehen bleibt und seitlich gebogenen Halses die Wagen anschaut, bis der letzte vorüber ist. Oefters bemühen sie sich aber gar nicht einmal in den Bahngraben hinab, sondern rennen ungestört auf dem Nebengeleise weiter, als sei gar nichts vorgefallen. Im Winter, wenn die Fluren hoch überschneit sind und die Bahnstrecke allein, mit großer Anstrengung freilich, von den hemmenden Schneemassen freigehalten wird, sind diese Vorfälle tägliche und häufige Erscheinungen. In dieser Jahreszeit bevorzugen sie auch die stufenartigen Bahndämme und die Böschungen der Einschnitte, auf deren schiefen Flächen die schrägen, matten Wintersonnenstrahlen den Schnee zuerst wegwärmen und dadurch den hungrigen Thieren freie Stellen bieten, auf denen sie zugleich das wenige karge Futter finden. In den Einschnitten sitzen sie dann auf der vor dem Winde geschützten Seite mit aufgeblasenem Gefieder zusammengehockt, oder sie rennen auf den Terrassen hin, um Nahrung zu suchen.

Die vor Wind und Wetter schützenden Bahneinschnitte sind überhaupt der beliebte und gesuchte Aufenthalt nicht blos der Hühner, sondern auch der Hasen. In dem hohen Einschnitte zwischen Werdau und Zwickau in Sachsen in der Nähe der hölzernen Ueberbrückung hatte ein Hase im Winter sein Lager aufgeschlagen und ließ sich aus demselben selbst dann noch nicht vertreiben, als man von einem vorüberfahrenden Zuge aus mit Steinkohlen nach ihm warf.

Auch für diese Bevorzugung der Eisenbahnstrecken haben freie Thiere ihren guten Grund. Bekanntlich dürfen die Bahnpfade nur gegen besondere Erlaubniß und Erlangung einer Karte begangen werden, das Betreten und Erklettern der Böschungen und Dämme selbst aber ist so streng verboten, daß jeder Bahnwärter und Bahnbeamte überhaupt den Zuwiderhandelnden festzunehmen hat. Deshalb herrscht in unmittelbarer Nähe der Eisenbahnen eine gewisse Ruhe und Sicherheit und diese ist’s, die von den Thieren ausgenutzt wird. Eben darum befindet sich der Wurf der Hasen und das zahlreiche Gelege der Rebhühner nicht selten in dem hart an der Bahn wachsenden Gestrüpp und Gesträuch, und die beflaumten Jungen der letzteren sieht man öfters in dem Bahngraben dahinlaufen, kleinen gelben Kugeln vergleichbar.

Eine große Anzahl dieser unschädlichen kleinen Hühner finden alljährlich ihren Tod an den an der Eisenbahn hinziehenden Telegraphendrähten, und zwar besonders bei Nacht, in der Dämmerung oder bei Schneegestöber und Nebel, denn am Tage wissen sie den gefährlichen Drähten recht geschickt auszuweichen. Oft findet man die Glieder eines zahlreichen Volkes todt oder schwerverwundet am Boden liegen, die, in der Nacht von irgend einer Wahrnehmung aufgescheucht, ihr gerader schwirrender Flug an die straffen Drähte führte.

Das zutrauliche furchtlose Wesen der Hühner und der Hasen ist indeß nicht ohne Ausnahme; manche dieser Thiere gebehrden sich einem nahenden Zuge gegenüber so ängstlich und erschreckt, wie man es von ihnen kaum anders erwarten kann; diese Ausnahmen können jedoch nur von solchen Thieren herrühren, welche der Zufall das erste Mal mit der Bahn zusammenführte. So ereignet es sich wohl, daß ein Hase, der sich in dem mit saftigerem Grün bestandenen Bahngraben äßt, vor einem nahenden Zuge plötzlich schnell aufspringt und im Graben hin der brausenden Maschine zu entfliehen sucht. Natürlich wird er trotz aller seiner Anstrengungen eingeholt und springt nun, dadurch kopflos gemacht, gar über die Schienen und rennt auf der andern Seite im Graben weiter, freilich mit demselben Erfolge; endlich aber biegt er mit verzweifelten Sprüngen zur Seite aus, macht sich in langen Sätzen noch ein Stück davon, bleibt dann von Zeit zu Zeit sitzen, um zu äugen und auf den schnaubenden Verfolger zu lauschen, und drückt sich schließlich erschöpft in eine Vertiefung.

Vor Allem ist es aber ein Thier, welches sich nicht blos mit dem lärmenden Treiben auf den Eisenbahnen vollkommen ausgesöhnt, sondern auf ihnen sich wirklich eingebürgert hat, seine Wohnungen an und sogar unter dem Schienenweg anlegt, in den Bahnhöfen sein Wesen treibt und immer neue Colonien gründet. Es ist das wilde Kaninchen.

Auf mehreren Bahnhöfen Sachsens ist es recht häufig und hat hier gewöhnlich unter den aufgehäuften hölzernen Schienenunterlagen, den Schwellen, seinen Aufenthalt. Auch auf der Bahnstrecke selbst ist es zu Hause und hat sich daran und darin seine weitverzweigten Baue ausgegraben. Es bevorzugt die sandigen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 41. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_041.jpg&oldid=- (Version vom 26.2.2017)