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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

Sie wissen nämlich aus Erfahrung, daß viele Krankheiten innerhalb acht bis neun Tagen ihrer Krisis entgegen gehen. Diesen Umstand verstehen die berühmten Heilkünstler gar schlau zu benützen und auszubeuten; sie bestellen einfach die von den Patienten abgesendeten Boten am neunten Tage wieder zu sich; ist bis dorthin die Krankheit nicht günstig nach ihrer Berechnung abgelaufen, so bestimmen sie wieder einen Zeitraum von neun Tagen, und so fort, bis die Krankheit mittlerweile durch gehörig diätes Verhalten oder durch ärztliche Hülfe sistirte. Zu erwähnen ist hierbei, daß in den meisten Fällen, besonders bei den sich in die Länge ziehenden schwierigeren Fällen, das abergläubische Publicum die Vorsicht nicht verschmäht, außer der Hülfe der Büßer die ärztliche Hülfe zu benützen. Jedenfalls hat dann nach günstig abgelaufenem Process nach der Meinung des Publicums nie der Arzt, sondern immer nur der Büßer mit seinem Hokuspokus geholfen, denn seinen Glorienschein darf der Letztere nie verlieren.

Traurig ist es erwähnen zu müssen, daß diese Betrüger und Erzgauner nicht blos zahlreiche Verehrer aus dem ungebildeten Publicum zählen, sondern daß selbst Leute aus den gebildeten Ständen, ja selbst Aerzte so hirnverbrannt sein können, ihre Zuflucht zu derartigen Heilkünstlern zu nehmen, wovon der Verfasser dieser Zeilen selbst Augenzeuge gewesen. Ich kenne einen Wundarzt, der in meiner nächsten Nähe seine Praxis ausübt, der, selber an Gicht erkrankt, nicht blos an Büßer sich wendete, sondern der es nicht unter seiner Würde hält, bei vorkommenden schwierigeren derartigen Krankheitsfällen seinen Patienten keinen besseren Rath zu ertheilen, als den, die Büßer aufzusuchen. – O heilige Wissenschaft, wozu nützest du, wenn du von deinen eigenen Jüngern so schmählich und so schnöde verlassen und verrathen wirst! Hier, glaube ich, ist es am Orte, noch von andern abergläubischen Mitteln, wie sie bei dem Publicum auf dem Lande in Anwendung kommen und selbst von sogenannten Gebildeten nicht verschmäht werden, Erwähnung zu thun, z. B. von dem Glauben an die Heilkraft noch unschuldigerer Geschöpfe, als die „Büßer“, nämlich von dem Glauben an die heilbringende Kräfte einer gewissen Gattung von Thieren, wie Turteltauben, Kreuzschnäbel, Meerschweinchen etc. Nicht selten hat man hier zu Lande Gelegenheit, in Häusern, in denen an Gicht oder Rheumatismus Leidende darniederliegen, derartige befiederte Hausärzte anzutreffen, die mit aller Aufmerksamkeit und Sorgfalt gepflegt werden. Wenn dann einmal eines dieser unschuldigen Geschöpfe zufälliger Weise mit Tod abgeht, so sagt man, es habe den gichtischen oder rheumatischen Krankheitsstoff an sich gezogen, und erklärt seinen Tod genialer Weise nicht für natürlich – das wäre zu gemein – sondern damit, daß es der Wucht des an sich gezogenen Krankheitsstoffes erlegen sei. Urplötzlich fühlt man wieder ein Reißen in allen seinen Gliedern, und man hat nun nichts Eiligeres zu thun, als um jeden Preis sich so bald wie möglich wieder einen solchen Hausarzt zur Stelle zu schaffen. Einen derartigen Hausarzt traf ich wider Erwarten unter Anderm einmal in der Wohnung eines Geistlichen. Nolens volens mußte ich dem gefiederten Unhold seinen rechtmäßigen oder nicht rechtmäßigen Platz gönnen, mußte mich in’s Unvermeidliche fügen und meinen befiederten Collegen mit im Rathe sitzen lassen.

Wenn schon die römischen Auguren aus dem Flug und der Bewegung der Vögel ihre gesammte Weisheit entlehnten, dachte ich für mich, warum sollte nicht auch ein einfacher Landarzt durch Haltung und Bewegung eines derartigen Geschöpfes eines Besseren belehrt werden? Dabei schien mich der kleine Gefiederte mit seinen klugen Augen mitleidsvoll anzublicken und mir beifällig zuzunicken. Doch glaubte ich es nicht unterlassen zu dürfen, dem Hochwürdigen zu einer so hochwichtigen Acquisition zu gratuliren und ihm zu verstehen zu geben, daß, so lange die Gesundheit des Hochwürdigen unter dem Einflusse einer solchen Naturkraft stände, dieselbe gewiß immer eine grund- und felsenfeste sein müsse; dabei erspare er das ärztliche Honorar, denn sein Hausarzt würde gewiß nie Miene machen, auch nur im Entferntesten ein solches zu beanspruchen. Auf diese etwas malitiös hingeworfenen Bemerkungen fuhr mich Seine Hochwürden ziemlich derb und bäuerlich grob an: „Ihr Mediciner seid alle Materialisten, Atheisten und Freigeister von Haus aus und glaubt nur an euere Naturkräfte und nie an die Hülfe Gottes, die doch das Wichtigste ist bei allen eueren Curen und ohne die ihr nichts seid.“ Ich entgegnete ihm, daß diese, die Naturkräfte, für jeden rationellen Arzt das oberste Gesetz und die Quelle für all’ sein Thun und Schaffen in der Praxis sein und bleiben werden und daß in dem richtigen Verständniß derselben und ihrer Wirkungen, sowie in ihrer richtigen und rechtzeitigen Anwendung die gesammte ärztliche Kunst begründet sei, daß wir uns aber nie dazu verstehen werden, an andere, als an Naturkräfte, an übernatürliche, namentlich aber nicht an sogenannte sympathetische oder an andere derlei für den Menschen unverständliche abergläubische Mittel zu glauben. Seine Hochwürden ließ sich trotz alledem durchaus nicht bewegen, den Glauben an die Heilkraft seines Günstlings in seinem Leiden aufzugeben, und behielt nach wie vor den Vogel wohlverschlossen im Käfig und wohl gepflegt in seiner unmittelbaren Nähe.

Der Aberglaube an ähnliche übernatürliche Kräfte ist im Volke in gewissen Gegenden, wo Hierarchie und Bureaukratie noch in voller Blüthe stehen, wo die Träger derselben dem Volke noch Alles in Allem sind und von diesem als die allein selig machenden Kräfte fast abgöttisch verehrt werden, von jeher tief eingewurzelt gewesen, und keine Aufklärung und keine noch so schlagende und gründliche Widerlegung ist im Stande, den Wahn auszurotten. Nur was von jeher beim Volke Sitte und Gebrauch war, was die Väter und Urväter für heilig gehalten, das ist ihm und bleibt ihm heilig, und jede Neuerung wird, auch wenn sie das Beste und Nützlichste für das allgemeine Wohl bezweckte, mit scheelen Augen angesehen und gleichsam als eine Störung in dem historischen Rechte auf seinen Besitz betrachtet. So ist es mit Allem und mit Jedem, auch auf dem Felde der ärztlichen Praxis.

Zur vollen Charakteristik der mißlichen ärztlichen Verhältnisse hier zu Lande muß nicht unerwähnt gelassen werden, daß nicht blos die Herren Apotheker selbst etwas Charlatanerie nicht verschmähen, sondern daß es auch jedem Privatmann erlaubt ist, Charlatan zu sein, nicht blos Medicamente für sich zu besitzen, sondern dieselben auch förmlich zum Verkauf für’s Publicum auszubieten. So verkauft Herr A. in dem Städtchen, in welchem ich meine Praxis auszuüben das Glück habe, Seidlitz-Pulver und Gastrophan für alle möglichen Fälle, für Magenkrankheiten und für Jung und Alt; Herr B. verkauft Augenwässer und Augsburger Pillen und giebt sie in allen möglichen Augenleiden und Unterleibsbeschwerden ohne Unterschied; Gevatterin C. verkauft einfache Krätzensalbe zu enormem Preise. Die Frau Hebamme nimmt es gar nicht genau, hat eine förmliche Apotheke von allerlei Kräutern und Theesorten, hat Abführ-, Brust-, Schweiß-, Camillenthee etc. nach Bedarf und hält allerhand Säftlein und Tränklein für die Kinder. Der Herr Apotheker X. nimmt es selbst nicht allzu genau und gewissenhaft, nimmt Kranke in ein förmliches Examen und expedirt dann auf’s Gerathewohl Medicamente aller Art ohne jede ärztliche Vorschrift und ohne Recept.

Wenn dies so fort geht, wenn Jedermann vom Lande das Recht hat, zu quacksalbern, das Publicum somit keinen Mangel an verschiedenen Heilkünstlern besitzt; wenn Jedermann das Recht hat, ungescheut und ungestraft Medicamente aller Art zu halten und zu verkaufen; wenn zwischen dem wissenschaftlich gebildeten Arzte und dem rohen Heilkünstler und Curpfuscher von Seite des Publicums kein großer Unterschied gemacht wird; wenn Kunst und Wissenschaft zu einem bloßen Gewerbe herabgewürdigt werden; wenn der Arzt nur dann und wann einmal an’s Krankenlager gerufen wird, auf dem der Kranke bereits in den letzten Zügen liegt, indem ihm der Tod schon auf der Zunge sitzt und alle menschliche Hülfe illusorisch ist; wenn der Doctor selbst in diesem Moment oft nur der sogenannten „Schande“, das heißt des Schamgefühls wegen, damit der Angehörige ja nicht wie das liebe Vieh aus der Welt scheide und damit es nicht heiße, er sei verdorben und ohne ärztliche Hülfe gestorben, an’s Krankenbett gerufen wird und allenfalls zu nichts Anderem nutz ist, als um sich hier als Zeugen beim Unterschreiben eines Testamentes verwenden zu lassen, oder dort bei der unaufschiebbaren Provision zu administriren, oder im schlimmsten Falle dem Patienten keinen anderen Dienst erweisen kann, als den, ein gutgemeintes letztes Vaterunser mit den Angehörigen für den Dahinscheidenden zu beten, um demselben, wie sich das Landvolk ausdrückt, „sein Sterbestündchen zu erleichtern“: so wird das ärztliche Personal auf dem Lande gar bald ganz und gar überflüssig, außer es müßte jetzt durch die Trichinenfurcht bei einigen Fleischern und Selchern wieder zu etwelchem Credit gelangen; denn auf dem Lande curirt Jeder nach seiner Art wie der Doctor Eisenbart.

Dr. D.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 40. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_040.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)