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verschiedene: Die Gartenlaube (1867)

nimmt jedes für blanke echte Münze; denn der junge Kiekindiewelt ist natürlich noch zu unerfahren, um wohlwollende Aufmunterung von verdienter Anerkennung immer gehörig unterscheiden zu können. Darum, meine Herren, wenn Sie zu einem Lobgesang angeregt werden sollten, was ich immer zugleich wünsche und fürchte, so führen Sie ihn in mäßigem Tempo, nicht zu geräuschvoll instrumentirt, und in C-dur, der ungefärbtesten Tonart, auf. Bisher habe ich ihn vor Eitelkeit und Selbstüberschätzung bewahrt, diesen vermaledeiten Feinden alles künstlerischen Fortschreitens.“

Ehe wir noch etwas auf diese einigermaßen sonderbare Anrede erwidern konnten, kam er herein gesprungen, der Felix. Ein schöner, blühender Knabe, mit entschieden jüdischem Typus, schlank und gelenk; reiches, schwarzes Lockenhaar floß ihm bis in den Nacken herab. Geist und Leben sprühten aus seinen Augen. – Er sah uns einen Augenblick neugierig an, dann trat er auf uns zu und gab jedem freundlich zutraulich die Hand, wie alten Bekannten.

Mit Felix war auch Goethe eingetreten, der unsre ehrfurchtsvolle Verbeugung freundlich grüßend erwiderte. „Mein Freund,“ sagte er, auf Zelter deutend, „hat da einen kleinen Berliner mitgebracht, der uns dieser Tage große Ueberraschung als Virtuose bereitete. Nun sollen wir ihn auch noch als Componisten kennen lernen, wozu ich Ihre Beihülfe erbitte. So laß uns denn hören, mein Kind, was Dein junger Kopf producirt hat.“ Bei diesen Worten strich Goethe dem Knaben über die langen Locken.

Allsobald lief dieser zu den Noten, legte die Stimmen für uns auf die Pulte, die Principalstimme auf den Flügel, und nahm eilig Platz auf dem Sessel. Zelter stellte sich hinter Felix zum Umwenden, Goethe einige Schritte seitwärts, die Hand auf den Rücken; der kleine Componist warf einen feurigen Blick auf uns, wir legten die Bogen an, eine Bewegung von ihm mit dem Lockenhaupt und das Spiel begann.

Dies ist der Moment, den der Künstler aufgefaßt und, sowohl in Bezug auf die Scene selbst als auf alle Einzelheiten des Gemachs, auf’s Treueste dargestellt hat. Goethe hörte alle Sätze mit der gespanntesten Aufmerksamkeit an, ohne besondere Bemerkungen zu machen, als etwa nach dem einen Satz ein „Gut“, nach dem andern ein „Brav“, welches er mit einem freundlich beifälligen Nicken begleitete. Zelter’s Ermahnung eingedenk, zeigten auch wir dem Knaben, dessen Antlitz im Verfolg des Vortrags sich immer höher röthete, unsern Beifall nur durch erfreute Mienen.

Als der letzte Satz zu Ende, sprang Felix von seinem Sitz auf und blickte Alle der Reihe nach mit fragendem Blick an. Er mochte nun etwas über sein Werk hören wollen. Goethe aber nahm, wahrscheinlich von Zelter gestimmt, das Wort und sagte zu Felix: „Recht brav, mein Sohn! Die Mienen dieser Herren“ – auf uns deutend – „sprechen deutlich genug aus, daß ihnen Dein Product recht gut gefallen hat. Nun geh’ hinunter in den Garten, man erwartet Dich, und erhole und kühle Dich ab, denn Du brennst ja lichterloh.“

Ohne Weiteres sprang der Knabe zur Thür hinaus.

Als wir unsere Blicke fragend auf Goethe richteten, ob wir entlassen seien, sagte er: „Verweilen Sie noch ein wenig, meine Herren; mein Freund und ich wünschen Ihre Ansicht über des Knaben Composition zu vernehmen.“

Es entspann sich nun eine längere Unterhaltung, deren speciellen Gang ich freilich nach so vielen Jahren nicht mehr anzugeben vermag, weil ich leider in meinen Tagebüchern nichts darüber aufgezeichnet finde. Manche Aeußerung ist mir jedoch im Gedächtniß geblieben, da mein späteres näheres Verhältniß zu Mendelssohn mir öfter Anlaß gab, mich jenes ersten Zusammentreffens mit ihm wieder zu erinnern.

Goethe bedauerte, daß wir den Kleinen heute nur im Quartettspiel kennen gelernt hätten. „Die musikalischen Wunderkinder,“ sagte er, „sind zwar hinsichtlich der technischen Fertigkeit heutzutage keine so große Seltenheit mehr; was aber dieser kleine Mann im Phantasiren und Primavistaspielen vermag, das grenzt an’s Wunderbare und ich habe es bei so jungen Jahren nicht für möglich gehalten!“

„Und Du hast doch den Mozart in seinem siebenten Jahre in Frankfurt mit angehört!“ sagte Zelter.

„Ja,“ erwiderte Goethe, „damals zählte ich selbst erst zwölf Jahre und war allerdings, wie alle Welt, höchlich erstaunt über die außerordentliche Fertigkeit desselben. Was aber Dein Schüler jetzt schon leistet, mag sich zum damaligen Mozart verhalten, wie die ausgebildete Sprache eines Erwachsenen zu dem Lallen eines Kindes.“

„Allerdings,“ sagte Zelter lächelnd, „was das Fingergeschlecht betrifft, so spielt der Felix die Concerte, mit denen Mozart seiner Zeit die Welt in Erstaunen versetzte, als leichte Spielerei frisch vom Blatte weg, ohne eine einzige Note sitzen zu lassen. Aber das können jetzt viele Andere noch. Bei mir handelt sich’s um das schaffende Talent des Knaben, und“ – sich an uns wendend, – „was meinen nun die Herren zu seiner Quartett-Composition?“

Es wurde von unserer Seite mit voller Ueberzeugung ausgesprochen, daß Felix viel selbstständigere Gedanken producire, als Mozart in denselben Jahren, der damals noch nichts anderes als gewandte Nachahmungen des Vorhandenen geliefert habe. Hiernach sollte man schließen dürfen, daß die Welt mit diesem Knaben einen zweiten Mozart in verbesserter Auflage erhalten werde, und um so sicherer, als er von blühender Gesundheit strotze und alle äußeren Umstände ihm so günstig wären.

„Möchte es so sein,“ sagte Goethe. „Wer aber kann sagen, wie ein Geist sich in der Folge entwickeln mag? Wir haben schon so manches vielversprechende Talent falsche Wege einschlagen und unsere großen Erwartungen täuschen sehen. Indeß davor wird diesen jungen Geist der Lehrer bewahren, den ihm das gute Glück in Zelter zugeführt hat.“

„Ich nehme es wohl ernst mit dem Jungen und halte ihn neben seinen eigenen freien Arbeiten immer bei der Stange der strengen contrapunktischen Studien. Allem wie lange kann das noch dauern, so entläuft er meiner Zucht – ich kann ihn ja eigentlich jetzt schon nichts Wesentliches mehr lehren – und einmal frei, wird sich’s erst zeigen, wohin seine eigentliche Richtung geht.“

„Ja, und überhaupt,“ sagte Goethe, „ist es mit dem Einfluß des Lehrers eine problematische Sache. Das, was den Künstler groß und eigenthümlich macht, kann er nur aus sich selbst schaffen. Welchen Lehrern danken denn Raphael, Michel Angelo, Haydn, Mozart und alle ausgezeichneten Meister ihre unsterblichen Schöpfungen?“

„Freilich,“ bemerkte Zelter, „es haben Viele angefangen wie Mozart, aber noch ist ihm Keiner nachgekommen. (Beethoven wurde nicht erwähnt und so nannten auch wir seinen Namen nicht.) „Der Felix hat Phantasie, Gefühl und tüchtige Technik, Alles in eminentem Grade; er hat überall gute, zuweilen charmante, nichts weniger als Knabengedanken, aber vor der Hand ist es doch nur erst hübsche Musik, die noch auf der Erde herumkriecht, die Sprache des Genius weht noch nicht darin, darüber täusche ich mich nicht. – Meinen Sie nicht so, meine Herren“ – Da er es selbst aussprach, konnten wir ihm wohl beistimmen. Doch fügte ich hinzu: „Auch in Mozart’s Knabencompositionen war diese Sprache noch nicht zu vernehmen.“

Hier erlaubte ich mir die Frage, „ob dieses Quartett auch ganz, wie wir es gehört, von dem Kleinen herrühre.“ „Ja, ja,“ erwiderte Zelter, „alles eigenhändig und – eigengeistig, ich sage, auch ganz eigengeistig. Was Sie gehört haben, bringt er jetzt fertig, ohne jegliche Beihülfe. Ich weiß wohl, wie’s die meisten Lehrer machen. Um ihre Lehrkunst zu apotheosiren, überschmieren sie die Arbeiten ihrer Schüler so lange, bis von den Gedanken der letzteren wenig oder nichts übrig bleibt, und geben’s dann für die Arbeit der Scholaren aus. Das ist eine niederträchtige Schwindelei und Charlatanerie. Sie täuschen nicht allein die Angehörigen und das Publicum, sondern auch die Schüler selbst, die sich bald einbilden, Alles selbst gemacht zu haben. Es ist ein Uebel, das schon manches wirklich schöne Talent verdorben und in seiner höhern Ausbildung gehemmt hat. Den da lasse ich gewähren, lasse ihn jetzt machen, was er jetzt machen kann; da bleibt die Schaffenslust stets frisch, weil er mit dem jedesmal Gemachten zufrieden ist und ihm die Freude am Gelungenen nicht durch die Kritik vergällt wird. Die kommt bald von selbst. Die Einsicht wächst und damit der Trieb zum Neu- und Bessermachen. Darum hat dieser zwölfjährige Bube schon mehr geschrieben, als mancher Dreißigjährige; mag’s sein, wie’s will, es ist da, als nöthige Stufe, die Keiner, auch das höchste Genie nicht, zu überspringen vermag. Behüte uns der Himmel die seltene Pflanze vor allen störenden Einflüssen, so wird sie sich gewiß als ein Prachtexemplar entfalten.“

Dies waren ungefähr die Aeußerungen, deren ich mich noch erinnere. –

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verschiedene: Die Gartenlaube (1867). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1867, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1867)_006.jpg&oldid=- (Version vom 26.2.2017)