Seite:Die Gartenlaube (1866) 788.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Guten Abend,“ sagten wir.

„Guten Abend.“

Alles war mäuschenstill und stockfinster.

„Was wollt’s es denn?“ fragt die Stimme aus dem Dunkeln.

„Nun, da wird ja getanzt und da wollten wir halt auch ein Bischen mitthun.“

„Da wird nit tanzt,“ war die kurze Antwort.

„Na, Ihr glaubt wohl gar, wir wären d’ Standari (Gensdarmen)? Das braucht’s nit zu fürchten! Kennt’s mi denn nit? Ich bin ja der Doctor von Au und das ist mein Freund.“

„Ach so, der Docter seid’s? Na, da kommt’s nor aufi!“

Und wir stiegen nun mit ihm eine Art Hühnerleiter hinauf, in die Beletage, wo jeder Ton und jeder Lichtschein verschwunden war, so lange wir mit dem Sicherheitsposten verhandelten. Erst als dieser nach oben gemeldet, welch’ unschädliche Störenfriede wir seien, ging plötzlich wieder das einzige Licht auf, das in einer Stalllaterne brannte und über das man bei unserem Nahen einen henkellosen Eimer gestülpt hatte, der offenbar zu diesem Zweck bereit stand.

Welches Bild dieses so sorgsam geschirmte Flämmchen beleuchtete? Eine Kirchweih im Holzschuppen! Nichts fehlte ihr, als die lachende Sonne und der blaue offene Himmel dazu. Aber Beides hatten diese Kirchweihgäste vermeiden müssen, um heimlich Tanz und Gesang dafür einzutauschen. Lautlose Völlerei wäre ihnen im Dorfe drunten gestattet gewesen. Da aber ihr Herz sich nach der altlieben schalkhaften Fröhlichkeit sehnte, zu welcher Citherklang und Tanztact gehören, so mußten sie wie Schelme in der Nacht in der einsamen Berghütte zusammenschleichen. Trotzdem war Alles so gut vorbereitet, daß auch hier die Freude eine vollständige wurde. Die Musik hatte sich an den ihr gebührenden Platz am großen Tisch in der einen Ecke postirt, und zwar bestand sieb aus einem Citherspieler, der sein selbstgefertigtes riesiges Instrument meisterhaft handhabte, und einem neben ihm auf einem Barrenbalken sitzenden tactfesten Burschen, der mit einem Schlittenschellengeläute die anregende Begleitung dazu besorgte; Diese beiden Tonkünstler und ein neben ihrem Tisch aufgepflanztes ansehnliches Faß Bier hielten die Lebensgeister des Völkchens munter, das hier in den verschiedensten Gruppen sich wohlig beisammen fühlte. Da saßen und lehnten die älteren Männer, denen das Pfeifchen so gut schmeckte, die rüstigeren, die den Einschank am Faß besorgten, und die jungen Bursche, mit denen die Mädchen am liebsten verkehrten, während die älteren Frauen wie gutherzige Sittenwächterinnen vollzufrieden dazwischen saßen. Da stiegen uralte Schnaderhüpfl aus den Gräbern, in welche der Pfarrer und der Gensdarm sie hin gebannt, munter hervor, der Nagelschuh suchte die Schlittenrolle zu übertäuben, und Niemand dachte daran, dem Kuß in Ehren zu wehren.

Wie wohl waren wir hier aufgehoben! Einmal als Gäste in die Heimlichkeit mit hereingezogen, verspürten wir nichts von dem kältenden Anhauch, mit dem sonst der Tiroler Landmann alle „Herren“ und alles „Herrische“ von sich zurückhält. Die jungen Leute führten uns ihre schönsten Tänze vor und luden uns ein, Theil an ihrer Lust zu nehmen. Zwischen Gesang und Tanz und manchem guten Wort zum trefflichen Trunk verrauschte die Zeit, und nichts störte die köstlichen Stunden. Es war ein recht treuherziger Abschied, zu dem uns Alle die Hand reichten, als wir nach Mitternacht aufbrachen, um die Leutchen allein ihre Kirchweih ganz zu Ende feiern zu lassen.

„Wie ist es Dir zu Muthe? Welch’ Gefühl nimmst Du von dem lustigen Abenteuer mit fort?“ fragte mich mein Freund, ‚der Docter von Au‘, als wir, aus dem Bereich der Kirchweihmusik gekommen, unsere Straße wieder erreicht hatten.

Sieh, antwortete ich, wenn ich diese Menschen betrachte, wie sie von der Natur körperlich so gut ausgestattet und wahrlich auch geistig nicht stiefmütterlich bedacht sind, so überkommt mich Zorn und Leid über den verwahrlosten Zustand, in welchem sie dahinleben müssen. Wie viel Mühe und Aufwand würde mehr daran zu wenden sein, dieses Völkchen seiner Begabung gemäß zu einem Musterschlag von Menschen zu erziehen, als jetzt seine Verdummung kostet?

„Leider hast Du Recht,“ erwiderte mein Freund, „und die Trauer um dieses Volk wird noch größer, wenn wir sehen, welche Talente es in seinen untersten Kreisen schon besaß und noch heute geradezu versteckt. Wer kennt nicht den Peter Anich und Blasius Hueber, zwei Bauern, welche, ohne irgendwelche Anleitung, nicht nur die erste gute Karte von Tirol entwarfen, sondern Erd- und Himmelskugeln verfertigten, die ihrer Zeit als Wunderwerke angestaunt wurden. In der Malerei und Bildnerei herbergt Tirol nicht blos viele kleine Meister auf den Dörfern, sondern hat auch größere allgemein bekannte Künstler erzeugt. Rechne dazu, welche Tüchtigkeit dieses Volk in seinen Landesvertheidigungen bewährte, welches Selbstgefühls es sich so oft fähig erwies, und denke nun, wenn man zu diesen Volkstugenden der Tapferkeit, der Vaterlandsliebe und des Ehrgefühls das alte heitere Volksleben erhalten und dem Bildungstrieb die Wege nur wenigstens unverrammelt gelassen hätte, welch’ ein Bild müßte heute Tirol und sein Volk bieten!“

Und dies Alles, grollte ich, opfert man der Herrschsucht und dem möglichst ungestörten Wohlsein einer zahllosen Geistlichkeit!

„Darin irrst Du; die Stellung der Priester an sich und zum Volke ist eine ganz andere,“ belehrte mich der Doctor. „Die geistliche Zwingherrschaft, unter welcher die Pfarrer so viel wie die Unterthanen leiden, geht von den Bischöfen und zuhöchst vom Erzbischof von Salzburg aus. Die meisten Geistlichen sind arme Söhne dieses Volks und treten mit ihrem Amt, oft in hochgelegenen, im Winter kaum zugänglichen Dörfern, von aller Welt und Weltfreude getrennt, den langen Leidensweg ihres ganzen Lebens an. Zu ihren Entbehrungen kommen nun noch die von den Liguorianern eingeführten gemeinschaftlichen Bußübungen der Geistlichen eines bestimmten Bezirks, um in düsteren, mystischen Feierlichkeiten die Abtödtung alles Irdischen in ihnen zu vollenden. Ohne innern Halt durch eine gediegene wissenschaftliche Bildung, und ohne die äußere Hülfe einer kräftigenden Literatur, tritt dann der arme geknickte Pfarrer vor das Volk – und kennt nichts Besseres, als es denselben Weg zum Himmel zu führen, auf dem er sich selbst zu befinden glaubt. Und das ist die Quelle, aus der die Verkümmerung des Volksgeistes am üppigsten fließt.“

Großer Gott, was Alles mag in den Augen solcher Unglücklicher als Sünde erscheinen!

„Das geht allerdings weit. Wenn auch Klerus und Polizei Hand in Hand manche wirklich häßliche alte Volksunsitten beseitigt haben, so sind mit dem Unkraut auch viel unschätzbare Blumen und Blüthen des Volksthums mit vertilgt worden. Der sicherste Zufluchtsort der Volkspoesie war bei den Sennerinnen auf den Almen. Dort konnten Klerus und Polizei sie nicht so streng überwachen, aber ebendarum sorgten sie dafür, daß sämmtliche Sennerinnen von ihren Alpen vertrieben wurden – und mit ihnen die Cither und das frische Lied der Berge, das alles Denken und Fühlen, alles Jubeln und Zürnen des Volks verarbeitende Schnaderhüpfl.

„Der traurigste Erfolg der Verkirchlichung des gesammten Lebens in Tirol ist aber der Einfluß der Missionen mit ihren öffentlichen Bußübungen. Wie die Liguorianer für die Geistlichen, so haben deren jesuitische Genossen, die Redemptoristen, für das Volk diese Zerknirschungsfeierlichkeiten eingeführt. Da sitzen nun die armen Mädchen, in denen der Geist der Jugend seine natürliche Kraft äußern möchte, und lauschen den entsetzlichen Worten des Priesters, der ihnen vordonnert, daß jede weltliche Freude dereinst mit Martern der Hölle gebüßt werde, – und welche Legenden, welche heiligen Lügen, welche gräßlichen Schilderungen von Fegefeuer, Hölle und Teufel muß das arme Volk anhören und glauben! Und es glaubt sie mit Zittern und Zagen – es weint und jammert laut – die Wirkung auf die von aller Freude leeren Gemüther, denen kein Strahl des allgütigen, allerfreuenden Himmels das trübselige Einerlei der Tageslast erhellen und erheitern darf, ist schon oft eine so furchtbare gewesen, daß über die Unglücklichen das letzte Unglück Herr wurde: der Wahnsinn! Wenn alle Fälle dieses Unglücks hinausgedrungen wären in’s große Deutschland, der Schmerzensschrei wäre so mächtig geworden, daß sich kein Spott gegen ihn herausgewagt hätte. Wer Das mit ansehen muß, lieber Freund, der erst kann einen Abend, wie wir ihn dort in dem Holzschuppen erlebt haben, als einen großen Trost schätzen, der ihn mit der Zuversicht stärkt, daß wenigstens noch ein Thal übrig ist, in welchem die Gesundheit des Volksgemüths ihre Unverwüstlichkeit beweist. Das ist für mich der Werth dieses Abends gewesen und wird mir dieses Abenteuer unvergeßlich machen.“

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_788.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)