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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 48.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


Auf die rasche Frage des Vaters, ob Rosel auf dem nächtlichen Wege nach der Burg Bruno begegnet sei, antwortete sie: „Nein, Vater; seit gestern Abend habe ich ihn erst heute Morgen um neun Uhr wieder auf dem Weg gesehen. Aber ich begreife Dich selber nicht. Gestern grolltest Du ihm noch und warst böse, daß ich nur mit ihm gesprochen, und heute scheinst Du Deinen Sinn geändert zu haben. Wie kommt das?“

„Weil ich mein Kind keinem adligen Hungerleider zur Frau geben wollte,“ sagte der Wirth finster. „Die Sache hat sich indessen jetzt geändert und er hat, wenn ich auch für die Geschichte mit der Proceßsache keinen Pfifferling geben möchte, eine feste und anständige Stellung im Leben bekommen. Wärst Du ihm also noch so gut gewesen, wie ich früher glaubte, so –“

„Und weißt Du, Vater, welche Stellung er bekommen hat?“ frug das Mädchen und sah ihren Vater ernst und forschend an.

„Nun, gewiß weiß ich’s,“ erwiderte dieser, durch den Blick fast wieder außer Fassung gebracht.

„Beim Criminalamt.“

„Ja wohl, und wenn er da tüchtig ist, so kann er’s schon rasch vorwärts bringen. Der Gehalt wird freilich nicht so übermäßig hoch sein, aber lieber Gott, wo man erst einmal sieht, daß wirklich eine feste Grundlage da ist, kann man auch schon eher ein wenig nachhelfen.“

„Und weißt Du auch, Vater,“ flüsterte Rosel, indem sie auf ihren Vater zuschritt und ihre Hand auf seinen Arm legte, „daß ich, wenn ich wirklich seine Frau würde, auch kein Geheimniß vor ihm haben dürfte und möchte?“

„Rosel! rief der Vater erschreckt, indem er dem großen, angstvollen Blick seines Kindes kaum zu begegnen wagte, „was sollen all’ die dunklen Reden? heraus mit der Sprache! Du hast etwas auf dem Herzen, und ich will und muß es wissen.“

„Es ist auch vielleicht besser so,“ nickte das arme Mädchen leise vor sich hin, „Du mußt es wirklich wissen, denn nur dann ist noch Hoffnung möglich, wenn überhaupt –“

„Aber was ist Dir nur?“

„So höre, Vater. Kurz vor Mitternacht stieg ich auf die Ruine hinauf, ich sollte zum Zeichen, daß ich oben gewesen, einen der im Burghof selbst ausgetriebenen Schößlinge mit herunter bringen. Ich ging zu dem alten steinernen Tisch, der dort in der Mitte steht, und gerade, als ich darunter kauerte, um meine Aufgabe zu erfüllen, hörte ich plötzlich Stimmen und zwei Männer – mein Bruder und jener fremde Mensch, betraten den innern Raum. Angst und Bestürzung, was sie dahin geführt, ließen mich für einen Augenblick nicht recht zu mir selber kommen, ich wußte nicht gleich, sollte ich vortreten, sollte ich mich verborgen halten –“

„Dein Bruder?“ sagte Paul Jochus wie erstaunt, aber er selber fühlte, daß jeder Blutstropfen sein Antlitz verlassen haben mußte.

„Gleich darauf kamst Du,“ fuhr das Mädchen jetzt in furchtbarer Erregung fort, „ich verstand aus Deinen Worten, daß Du schon lange auf die Beiden gewartet, und dann verschwandet Ihr zusammen hinter der Mauer.“

„Und dann?“ sagte der Vater, doch er wußte kaum, was er sprach, denn seine entsetzlichste Ahnung war zur Wahrheit geworden.

„Dann folgte ich Euch,“ fuhr das Mädchen leise fort und durchlebte in diesem Augenblick noch einmal das ganze Entsetzen jener gräßlichen Stunde, „im Dunkeln tappte ich meine Bahn. Tief im Boden drin hörte ich Stimmen, steile Felsenstufen erreichte ich, die ich niederkletterte, ein abschüssiger schlüpfriger Weg lag vor mir und schon verließ mich der Muth, in dieser Finsterniß weiter vorwärts zu dringen, wo ich jeden Moment in irgend ein grausiges Gewölbe hinabstürzen konnte – da entdeckte ich dicht vor mir an der Wand einen Lichtschimmer, ich wagte mich noch die wenigen Schritte weiter vor und sah dann durch eine Oeffnung, die ein herausgebrochener Stein gelassen. O Vater, Vater, was um des Allerbarmers willen hast Du gethan? Was hab’ ich verschuldet, daß ich das Alles für Euch tragen muß?“

„Ich weiß nicht, wovon Du sprichst, was Du gesehen, gehört haben willst,“ stammelte der Mann. „Thörichtes Kind, die Aufregung in dem alten Gemäuer hat Dir die Besinnung geraubt; wer weiß denn, wen die Lust getrieben, da oben in der alten Burg um Mitternacht herumzuwandeln und Gespenster zu spielen; ich habe in meinem Bett gelegen und der Franz sieht mir wahrhaftig auch nicht so aus, als ob er sich eine Nacht Schlaf abstehlen würde, um da oben in dem alten Gemäuer spazieren zu gehen.“

Rosel sah den Vater einen Augenblick fest und starr an. Konnte sie sich geirrt haben? Wie im Flug schoß der Gedanke durch ihre Seele, aber es war auch nur ein Moment. Im nächsten schon fühlte sie mit furchtbarer Sicherheit die Wahrheit des Geschehenen, und sich in leidenschaftlicher Heftigkeit an des Vaters Brust werfend, rief sie aus:

„Vater, lieber, bester Vater, noch ist es vielleicht Zeit; rette Dich selber, rette Deinen Sohn vor jenem nichtswürdigen Verführer, der Euch in sein Netz gezogen!“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 745. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_745.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)