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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 46.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ruine Wildenfels.
Erzählung von Friedrich Gerstäcker.
(Fortsetzung.)


„Nein, Jungfer Rosel,“ rief der Hauptcontroleur, „lassen Sie um Gottes willen den Muthwillen bei Seite. Wissen Sie nicht die Geschichte von dem jungen Mädchen, das auch Muth genug hatte und bei ähnlichem Anlaß auf den Kirchhof hinausgeschickt wurde, um eine Gabel in das Grab eines an dem Tage beerdigten Selbstmörders zu stoßen? In der Aufregung stieß sie aber die Gabel durch ihr eigenes langes Kleid in den Erdhügel, und als sie wieder fort wollte und sich gehalten fühlte, glaubte sie wahrscheinlich, es sei der Todte, und brach vor Schreck und Entsetzen selbst todt an dem Grabe zusammen. Man soll mit solchen Dingen keinen Scherz treiben!“

„Ich treibe auch gar keinen Scherz, Herr Hauptcontroleur,“ sagte das junge Mädchen freundlich, doch bestimmt, „ich will mir die beiden Orangenstöcke verdienen, dem Meister Bollharz zur Strafe, weil er mir nicht zutraut, was er selber keine Courage hat auszuführen. Wo ich aber gehe und stehe, bin ich in Gottes Hand, oben in meiner Kammer, oder in der alten, öden Ruine, und da ich nicht zu fürchten brauche dort bösen Menschen zu begegnen, so habe ich auch wahrlich keine Angst vor etwa umgehenden Geistern mit oder ohne Kopf. Lassen Sie mich los, Herr Registrator, ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, allein es hilft Ihnen nichts; wenn die Rosel einmal was gesagt hat, so führt sie’s auch durch, und weder Sie noch der Vater könnten mich jetzt daran mehr hindern. Ehe Sie den wach kriegten, wäre ich übrigens schon den halben Weg oben auf dem Burgberg. Gott befohlen miteinander, in einer Stunde bin ich wieder da!“ Und ehe sie wirklich Einer daran verhindern konnte, oder überhaupt mit sich einig war, ob sie nicht blos Scherz trieb, sprang sie hinüber in das ‚gute Zimmer‘, wo sie Capuze und Umschlagetuch liegen hatte, nahm aus der Küche ein Messer mit und eilte flüchtigen Laufes die Straße hinab.

Die jungen Fremden fingen jetzt ebenfalls an sich für das bildhübsche junge Mädchen zu interessiren, und ein paar von ihnen griffen schon nach ihren Hüten und erklärten, daß sie ihr wenigstens von Weitem folgen wollten, damit ihr nicht etwa irgend etwas zustoßen könne. Bäcker Bollharz aber, den es besonders ärgerte, daß Rosel ihn so vor der ganzen Gesellschaft mit dem angebotenen Kuß bloßgestellt, rief, mit der Faust auf den Tisch schlagend, dann gelte die Wette nichts; aber sie sollten sie nur laufen lassen, die käme von selber wieder, und zwar ohne Zeichen, dann könne das hochnäsige Ding aber auch ihren Kuß für sich selber behalten, wie er seine Orangenstöcke, die er schon seiner Frau wegen nicht einmal hergeben dürfe.

Eine merkwürdige Umwandlung hatte das Verschwinden des jungen Mädchens in der Gesellschaft hervorgebracht, eine eigenthümliche Spannung, denn man wußte nicht recht, ob man darüber lachen, oder um das junge, waghalsige Ding besorgt sein sollte. Der alte Registrator fühlte sich am unbehaglichsten; es kam ihm fast so vor, als ob er dem Mädchen hätte wehren sollen, einen so unweiblichen, ja fast leichtfertigen Schritt zu thun. Wenn ihr nun doch etwas zustieß, wenn sie am Ende gar den Tod hatte vor Schrecken, mußte er sich dann nicht die bittersten Vorwürfe machen, daß er dabei gesessen und den Leichtsinn geduldet hatte?

Die jungen Fremden erkundigten sich indessen nach der eigentlichen Sage der Ruine, die ihnen der Hauptcontroleur auch auf das Genaueste und Umständlichste erzählte, und sie erklärten dann, daß sie morgen früh noch vor Tag aufbrechen würden, um mit der Morgendämmerung selber oben zu sein und zu sehen, ob das junge Mädchen ihr Wort gelöst habe. Der alte steinerne Tisch im Burghof war nicht zu verfehlen, und dicht daneben sollte sie ja, zum Zeichen daß sie dort gewesen, einen der aufwuchernden Schößlinge abschneiden oder abbrechen.

Bei der Sage der Ruine blieb es in dieser Stimmung aber nicht, denn es dachte natürlich jetzt Niemand daran fortzugehen, bis Rosel von ihrer nächtlichen Wanderung zurückgekehrt sei, und darüber mußte jedenfalls eine Stunde verstreichen. Der natürliche Ideengang der Gäste lenkte sich mittlerweile auf andere Sagen und Spukgeschichten, an denen der Hauptcontroleur, der sich in früheren Jahren viel an den wilden Grenzdistricten aufgehalten, besonders reich war. Hauptsächlich wurden solche Geschichten dabei hervorgehoben, bei welchen der Muthwille des Menschen keck die Geisterwelt herausgefordert und dann, versteht sich, immer den Kürzeren gezogen habe. Da war das alte Haus an der Grenze, in dem früher ein berüchtigter Schmuggler gelebt, der bei einem Streifzug erschossen wurde und später in seiner eigenen Wohnung umging, daß es Niemand mehr darin aushalten konnte. O ja, ein junger, leichtfertiger Franzose erbot sich den Geist zu bannen, aber Morgens fand man ihn bleich und todt mitten in der Stube liegen, ohne das geringste Zeichen einer Verletzung an seinem ganzen Körper. Und dann der junge Bursch, der Nachts unter den Rabenstein gegangen war, um auch, in Folge einer tollen Wette, einem der am Tag Gehenkten den Stiefel abzuziehen. Der kam auch nicht zurück, und wenn er auch nicht todt blieb oder wahnsinnig wurde, hat er doch nie im Leben wieder gelacht und ist von da an selber wie eine Leiche herumgegangen, bleich und elend und sich verzehrend, bis er endlich, noch in der Blüthe

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 713. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_713.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)