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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Hinter der Mainlinie.
Kosmopolitische Weltfahrten und Erinnerungen.
Nr. 1. Der Letzte seines Stammes.


Nach längerer Abwesenheit nach Cassel zurückgekehrt, dieser Perle unter den mitteldeutschen Städten, fand ich gar große Veränderungen vor. Auf dem kurfürstlichen Palais am Friedrichsplatze blähte sich stolz der preußische Adler; das weite, schöne Gebäude selber schien ausgestorben, alle Fenster waren dicht geschlossen und die sonst davor stehenden zahlreichen Posten eingezogen. An ihrer Stelle spazierte auf der Rampe ein einziger preußischer Musketier, der jetzt unter dem zurückgebliebenen Dutzend rother Schilderhäuser die Auswahl hatte. Erst im vorigen Jahre hatte der Kurfürst seinem Residenzschlosse einen neuen Anstrich gegeben, die eisernen Gitter an der Rampe und den Balconen schön vergolden lassen, und jetzt war ihm der Eintritt für immer versagt, und die prachtvollen Räume harrten des neuen Herrschers oder seines Statthalters. Eben wurde der Marstall des entthronten Kurfürsten nach Hanau abgeführt, um dort seinem Eigenthümer übergeben zu werden; ein großartiger Zug von vierzig Wagen und einhundert achtunddreißig Pferden, darunter das Leibgespann der dreizehn herrlichen Isabellen, mit welchen der Exmonarch auf dem Fürstencongreß zu Frankfurt ein so großes Aufsehen machte und selbst den Neid seiner gekrönten Vettern erregte. Ueberall erblickte ich preußische Fahnen, preußische Wappen und preußische Soldaten; dazwischen aber die Uniformen der nunmehr aufgelösten kurhessischen Armee, in denen meist stattliche und schmucke Leute staken. Und wenn die gemeinen Soldaten der vor Kurzem noch feindlichen Heere sich von einander etwas entfernt hielten, wandelten dagegen ihre Officiere oft Arm in Arm; es schien sich zwischen diesen bereits ein aufrichtig cameradschaftliches Verhältniß geknüpft zu haben. So bot die Stadt zwar ein fremdartiges Bild, aber das Leben und Treiben auf den Straßen war weit bunter und reger, als ich es früher gesehen, auch die Gasthöfe waren von Fremden und Reisenden überfüllt. Dennoch hörte ich die Geschäftsleute über noch immer stockenden Handel und Wandel klagen und die Befürchtung aussprechen, daß ihnen der inzwischen eingetretene Umschwung der Dinge schwere Einbußen zuziehen werde. Man versicherte mich, daß der Haushalt des Kurfürsten allein der Stadt jährlich viermalhunderttausend Thaler, die ganze Hofhaltung über zwei Millionen eingetragen habe, und wünschte nun als Ersatz einen preußischen Prinzen herbei, der hier seine Residenz aufschlagen möge.

Weniger die Einverleibung des Kurfürstenthums in die preußische Monarchie, als das persönliche Schicksal ihres früheren Herrschers schien den Leuten zu Herzen zu gehen. Man wollte die Schwächen und Auswüchse seines Charakters, die Miß- und Uebergriffe seiner Regierung entweder gar nicht mehr kennen oder suchte sie doch nach besten Kräften zu mildern und zu entschuldigen.

„Unser Kurfürst war ein braver, gutmüthiger Herr,“ sagte mir der Wirth einer Weinschenke, „und gewiß nicht übler als manche andere deutsche Fürsten, die jetzt noch fest auf ihren Thronen sitzen. Nur die unglücklichen Verhältnisse in seiner Familie und böse Rathgeber haben sein Gemüth verdüstert, seinen Sinn hart und störrig gemacht und ihn schließlich in’s Verderben gestürzt.“

Ein anderer dicker und rother Herr ging noch weiter. „Sehen Sie,“ sprach er, „wir hatten unter dem Kurfürsten fast gar keine Steuern, aber jetzt werden wir die Finger wohl nicht aus dem Geldbeutel kriegen. Und was haben wir im Uebrigen von dem neuen Regiment zu erwarten?! Wir Kurhessen sind ja den Preußen in allen Dingen um fünfzig Jahre voraus, namentlich an politischer Bildung, denn wir haben seit 1831 eine Verfassung und ein parlamentarisches Leben.“

„Ja,“ meinte ein Dritter, „bisher hätten wir uns eigentlich nicht zu beklagen; der preußische Gouverneur und der Administrator sind zwei milde, würdige Männer, die sich rasch Vertrauen erworben haben. Aber wie lange wird man uns die Beiden lassen? Das ist nur eine Lockspeise, und man wird bald andere Saiten aufziehen.“

Diese und ähnliche Aeußerungen befremdeten mich nicht wenig, und ich sprach darüber mit einem Universitätsfreunde, den ich hier aufsuchte und dem ich jene Unterhaltung mittheilte. „Ist das wirklich die Stimmung im Großen und Ganzen?“ fragte ich ihn.

„So ziemlich,“ entgegnete er. „Alles Neue und Fremde ist den Leuten zunächst zuwider, weil es sie in ihren Gewohnheiten, in dem Schlendrian ihres Daseins stört und sie zwingt, ihrem Denken und Thun eine andere Richtung zu geben. Dazu kommt die leidige Sentimentalität des Deutschen, der selbst den Tyrannen, der ihn Jahre lang gedrängt und gequält, noch bedauert, wenn diesen die rächende Nemesis endlich ereilt, ja ihn zurücksehnt. Andererseits hatte die preußische Regierung bisher in Deutschland wenig Sympathieen, und die Zeit ist noch zu kurz, als daß sie sich bei uns schon hätte einbürgern können; wenn sie jedoch mit Klugheit und Schonung unserer Eigenthümlichkeit verfährt, wie es allerdings den Anschein hat, werden wir uns allmählich, aber sicher mit ihr versöhnen und befreunden; zumal zwischen dem Stammescharakter des Kurhessen und dem des Altpreußen wirklich viel Verwandtschaft besteht: Beide sind in ihrem Wesen schroff und schwer zugänglich, dafür aber auch kernig und bieder. Was der eine Herr über die politische Bildung und das Verfassungsleben Hessens sagt, ist ganz richtig und Preußen kann in der That noch Vieles von uns lernen. Dagegen haben wir den Preußen schon Manches zu danken,“ fuhr mein Freund fort, indem wir einen Spaziergang durch und um die Stadt machten. „Es sind an und für sich Kleinigkeiten, die sie endlich weggeräumt oder umgekehrt uns vergönnt haben, aber für das Publicum von dem allergrößten Werthe und für das Wohl und das Wehe Einzelner oft geradezu entscheidend. Wie Sie wissen, war das Museum mit seinen Schätzen bis vor Kurzem Einheimischen wie Fremden hermetisch verschlossen; ebenso die Gemäldegalerie in der Bellevue, welche so viele kostbare Rembrandts und Rubens enthält, die unsre Künstler vergebens zu studiren und zu copiren nachsuchten. Der Eintritt hing von der Laune des Herrn Castellans ab und er gewährte ihn nur gegen Erlegung eines Thalers. Jetzt finden Sie im Museum täglich ein Gedränge von Besuchern, und unsre Maler segnen den preußischen Gouverneur, der den Herrn Castellan gezwungen, fortan Jedermann und gratis einzulassen. Die Geschichte von dem holländischen Thore kennen Sie. Sie wissen, daß die Casselaner seit Jahren umsonst für seinen Abbruch petitionirten und daß es einer der ersten Acte des preußischen Gouvernements war, das dem Verkehr so hinderliche Thor niederzureißen.

An dem Brückchen, das wir hier vor uns sehen,“ fuhr mein Begleiter fort, „zerschellte einst die Existenz eines wackern, strebenden Mannes. Er hieß Hartdegen und hielt eine Badeanstalt, die, so lange das Brückchen vorhielt, von den Casselanern fleißig benutzt wurde und ihren Besitzer ausreichend nährte. Allmählich wurde der Steg morsch und gefahrdrohend, weshalb ihn der Kurfürst einfach wegreißen ließ; denn im Gegensatz zu seinem Vater, der eine wahre Bauwuth besaß, waren ihm, wie Sie an dem schäbigen Aussehen der meisten Staats- und Domainengebäude bemerken können, selbst alle Reparaturen ein Gräuel. Vergeblich petitionirte Hartdegen um die Wiedererrichtung des Brückchens, vergebens erbot er sich solche aus eigener Tasche bewerkstelligen zu lassen: der Kurfürst versagte hartnäckig die Genehmigung, welche bekanntlich von ihm in Betreff jedes Prellsteines und jedes Zaunpfahls eingeholt werden mußte. So kam die Badeanstalt in Abnahme, denn das Publicum scheute den weiten Umweg über die große Fuldabrücke, und Hartdegen versank in Armuth und Elend. Jetzt ist auch das Brückchen wieder hergestellt.

Von ähnlichen Behelligungen, mit welchen der ‚brave, gutmüthige Herr‘ seine getreuen Unterthanen heimsuchte, kann ich Ihnen noch eine Menge erzählen. Wollte ein Ladenbesitzer ein neues Schaufenster einrichten, oder auch nur ein altes verändern, so hatte er zunächst einen detaillirten Plan nebst Zeichnung an die sogenannte Verschönerungscommission einzureichen, die erst wieder darüber an den Kurfürsten berichtete. Dieser corrigirte dann die Entwürfe, oder er forderte die Einreichung anderer Zeichnungen, oder er ließ mit der Entscheidung Monate und Jahre warten, und die Baulustigen reisten, um diese zu erlangen, ihrem Landesvater nicht selten in’s Bad oder in’s Ausland nach. Einen Hotelbesitzer machte jedoch die Verzweiflung kühn. Nach langem, vergeblichem

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 692. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_692.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)