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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

verbrannt worden. So aber kam die Sache den weltlichen Gerichten zu Ohren; das Parlament und der König schritten ein; das Kloster und die Haupttheilnehmer wurden bestraft.

Der zweite Fall ist einer der interessantesten Processe aus jener Zeit, ausführlich und nach den Acten von Michelet mitgetheilt. Ein hochgeachteter Prediger und Beichtvater der Provence, Gauffridi mit Namen, wird Vorsteher eines dortigen Nonnenklosters. Fast unumschränkter Herr im Haus, dabei ein angenehmer sinnlicher Mann, unter einem aufregenden Klima – kein Wunder, daß er bald mit einer Anzahl seiner Anvertrauten in Liebesverhältnisse kommt. Daraus entspinnt sich ein mehrere Jahre lang dauernder Proceß, bei welchem Gauffridi, unterstützt von seinen Amtsbrüdern, vom Bischof und Capitel, von seinen Landsleuten und sogar vom Parlament, sich trotz gehäufter Schuldbeweise immer wieder glücklich durchschlägt. Endlich verfällt man auf das Mittel, ihm den Proceß als Hexenmeister, „als Fürst der Zauberei“ zu machen. Man setzt es durch, daß er verhaftet und der Hexenprobe unterzogen wird. „Man verband ihm die Augen,“ erzählt Michelet, „und suchte mit Nadeln an seinem ganzen Körper die unempfindliche Stelle, wo das Zeichen des Teufels sitzen mußte. Als man ihm die Binde wieder abnahm, erfuhr er mit Erstaunen und mit Entsetzen, daß man die Nadel dreimal eingestochen hatte, ohne daß er es fühlte. Gauffridi hielt sich selbst für verloren und vertheidigte sich nicht mehr. Er wurde der nunmehr erst gesetzlich gestatteten, ordentlichen und außerordentlichen Folter unterworfen, gestand seine Zauberei ein und ward in Aix, vier Tage nach der Hexenprobe, lebendig verbrannt.“

Was sagt nun die Wissenschaft zu diesen Geschichten?

Die hier in Rede stehende Erscheinung, die Unempfindlichkeit der Haut entweder gegen Schmerz allein oder auch gegen andere Empfindungseindrücke, das heißt gegen Druck, Tasten, Streicheln, Wärme, ist der ärztlichen Wissenschaft wohl bekannt. Man kann sie örtlich hervorbringen durch Anblasen von Aether oder Chloroform, wozu man jetzt besondere kleine Apparate hat, oder durch Auflegen von Gefriermischungen (Eis mit Kochsalz in einem Mousselinbeutelchen), durch Unterbinden des Gliedes. Nach Dioscorides[WS 1] hatten die alten ägyptischen Priester einen Stein, Memphites genannt, nach dessen Auflegen man Schneiden und Brennen nicht fühlte.

Als krankhafte Erscheinung kommt die Hautunempfindlichkeit auf größeren oder umschriebenen Stellen gar nicht selten vor und hat dann bald örtliche Ursachen, bald allgemeinere. Zu Letzteren gehört die durch Nervenkrankheiten bedingte Hautunempfindlichkeit. Auf diese Form machten neuerdings zuerst Gendrin, Landouzy, Briquet, Brachet, Forget, Skokalsky etc. aufmerksam, fast sämmtlich Schriftsteller über Hysterie, welche dieses Uebel bei ihren Patientinnen so häufig beobachtet hatten, daß dasselbe den Namen der hysterischen Anästhesie erhielt. Zu Auffindung der schmerzlosen Flecken bediente man sich der von dem Leipziger Physiologen Ernst Heinrich Weber eingeführten Cirkelprobe; man stach mit zwei Cirkelspitzen in die Haut: offenbar eine Wiederaufnahme der alten Hexenprobe. Am gründlichsten ist Hautnervenkrankheit studirt worden von dem Prager Professor Anton Jaksch, in dessen klinischen Sälen man seit Jahren immer eine Anzahl derartiger Patientinnen findet. Jaksch bedient sich anstatt der abschreckenden Nadel- oder Cirkelspitzen des elektrischen Inductionsapparates in der seit 1854 durch Duchenne de Boulogne[WS 2] eingeführten Methode der örtlichen Faradisation. (Siehe Gartenlaube 1856, 36 und 1857, 15.) Dieser Apparat erlaubt es, eine Menge kleiner elektrischer Fünkchen in die Haut einschlagen zu lassen, welche anfangs nicht einmal schmerzhaft sind, jedoch nach und nach bis zum heftigsten Schmerz verstärkt werden können. Man hat es also ganz in der Gewalt, bei Prüfung des Grades der Hautunempfindlichkeit die Stärke der Schläge mit diesem Grad völlig in Einklang zu bringen. Und man hat, dies sei gleich dazu bemerkt, damit auch ein Heilmittel dieses Uebels und zugleich auch oft des damit verbundenen Allgemeinleidens der Nerven zur Verfügung.

Es zeigen die Beobachtungen von Jaksch (später von Smoler vervollständigt), daß diese Hautunempfindlichkeit, meist auf einzelnen, umschriebenen Flecken, gleichsam Inseln, von größerem oder geringerem Umfange und unregelmäßiger, keineswegs auf einzelne Nervenästchen beschränkter Begrenzung, vorzugsweise bei Nerven- und Gemüthskranken vorkommen. Jaksch zählt auf einhundertzwanzig Kranke seines Spitals durchschnittlich sechs bis acht Fälle. Es sind meist Hysterische oder Krampfkranke (Fallsucht, Veitstanz, Starrsucht), magnetisch Verzückte, Somnambüle, vor Allem aber Geisteskranke, besonders mit Sinnestäuschungen, Geistererscheinungen oder Dämonenwahn Behaftete, manchmal auch Gelähmte, mit Nervengicht Behaftete, Zuckerkranke und ähnlich herabgekommene Personen. Als Hauptursachen ermittelte Jaksch fast immer Gemüthsaffecte, namentlich heftige, erschütternde, wie Schreck, Entsetzen, Furcht, Angst. Verkehrte oder ganz verwahrloste Erziehung, Romanlesen, falsche religiöse Richtung waren oft vorausgegangen. Die meisten Patienten (4/5) waren Frauen; viele Israeliten, übrigens viel rein slavische Landbevölkerung. Smoler fand die Unempfindlichkeit der Haut gegen den elektrischen Schlag bei fünfzig melancholischen Kranken dreizehn Mal (darunter sechs Fälle von religiöser Melancholie, zwei mit Manie verbundene), bei fünfzig Tobsüchtigen fünf Mal, bei zwanzig Verrückten drei Mal, bei zwanzig Blödsinnigen acht Mal, bei der blödsinnigen Hirnlähmung in sechzehn Fällen zwölf Mal, bei mit Epilepsie verbundenen Geisteskrankheiten unter sieben Fällen fünf Mal, bei von Trunksucht ausgehenden Seelenstörungen allemal. Außerdem auch, wie Jaksch, bei Hypochondristen, Hysterischen und sonstigen Nervenkranken. Smoler sagt schon geradezu: wenn bei Verbrechern der Seelengesundheitszustand zweifelhaft sei, solle man durch Faradisation nachforschen, ob die Hautanästhesie da sei; denn dann spreche die Präsumtion dafür, daß auch Geisteskrankheit vorhanden. Das heißt also: Smoler führt die Benutzung des Hexen-Maals wieder in die öffentliche Gerichtspflege ein, aber im Geiste der Neuzeit, im Geiste der Humanität!

In der That darf man nur die obigen Erfahrungen gediegener Aerzte mit dem, was wir über das Mittelalter und seine Hexenprocesse wissen, zusammenhalten, um sich zu überzeugen, daß letztere alle die Elemente zu Erzeugung der localen Hautanästhesie theils vorräthig enthielten, theils entwickeln mußten. Dahin gehört: eine rohe, in Dummheit und Fanatismus erhaltene, dem finstersten Aberglauben huldigende Bevölkerung, Noth, Jammer, Kummer und Sorge aller Art, und wieder durch den Proceß und die schauerliche Haft bedingte Furcht, Angst, Entsetzen und Schrecknisse aller Art. Man kann sich nicht wundern, wenn Hunderte von Personen, namentlich herabgekommene, nervenkranke, verdüsterte, halb oder ganz geisteskranke Weiber, unter solchen Umständen das Symptom der Hautunempfindlichkeit zeigten, in einem Jahrhundert, wo Geisteskrankheiten epidemisch herrschten, wo die Geißler (Flagellanten), die Tanzsüchtigen, sogar die Kinder halbverrückt in massenhaften Schaaren in der Welt herumzogen!

Die Wissenschaft lehrt also: „was man im Mittelalter Teufel nannte, das sind (in der Mehrzahl der Fälle) Nerven, kranke Nerven!“ Und in der That, das wird jeder prakticirende Arzt zugeben, die kranken Nerven sind wie Teufel; sie treiben allerlei Teufelsspuk. Wer von kranken Nerven beherrscht wird, der ist förmlich des Teufels und wird es immer mehr. Mit Ueberempfindlichkeit, Erkältbarkeit, Schmerzen, Zuckungen und dergleichen fängt es an, und mit einer Legion von Plagen oder mit halber oder ganzer Verrücktheit hört es auf. Das ist die Lebensgeschichte so vieler zartbesaiteter Nervenmenschen, wie sie der Arzt jährlich beobachten kann. Und daraus geht ein Mahnspruch hervor: laßt Euch nicht von Euren Nerven beherrschen! Arbeitet zeitig an Euch und Euren Kindern, daran, daß die Nerven unter der Herrschaft des Verstandes, des höheren Hirnlebens bleiben!

Die andre Mahnung aber richtet sich an Alle, welche für die Fortentwickelung des menschlichen Geistes, für Erziehung und Bildung zu wachen berufen sind. Man darf dem Wunderglauben nicht die geringste Pforte öffnen, ohne Gefahr zu laufen, daß er eindringt und das ganze Haus verpestet. Da sind nun aber heutzutage viele, sogenannte Vornehme, die etwas Besseres als gewöhnliche Menschen vorstellen wollen und die sich ärgern, daß heutzutage der gemeine Mann, der Bürger und Bauer anfängt, an der allgemeinen Geistesbildung und Aufklärung Theil zu nehmen. Da wollen die vornehmen Herrschaften etwas Anderes haben und werfen sich dem Wunderglauben, dem Mysticismus, dem Wahrsagerthum und Geisterschauen, dem Teufelsglauben und der Frommthuerei in die Arme. Hinter ihnen aber stehen Leute, welche hoffen, mit solcher Hülfe den Fortschritt aufzuhalten, vielleicht den Rückschritt in’s Mittelalter und seine Pfaffenherrschaft zu beginnen. Das Ist ein gefährliches Beginnen, ein zweischneidiges Schwert. Gerade die

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Pedanios Dioscurides (1. Jahrhundert)
  2. Guillaume-Benjamin Duchenne (1806–1875)
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 688. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_688.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)