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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

und bald als genesen entlassen werden sollen; ob da wohl ihr Sohn darunter ist? Sie sieht und späht, und das Mutterauge ist scharf wie kein anderes – ihr Joseph ist nicht dabei!

„Draußen in der Zeltstation, gnädige Frau,“ antwortet zögernd der Arzt, den sie im Bureau nach dem Blessirten fragt. Er ist verlegen und seine Worte kommen ihm nur stockend über die Lippen, denn in der Zeltstation liegen nur die, welche am Schwersten verwundet sind. Sie beachtet’s nicht, ein einziger Gedanke beschäftigt ihre Seele. Sie wankt, doch nur einen Augenblick. Dann geht sie eilenden Schrittes neben dem Diener her, der ihr den Weg nach dem Lufthause weist. Sie tritt ein. Eben breitet eine barmherzige Schwester eine Decke über eines der nächststehenden Betten.

„Wo? … wo … liegt Fähndrich … ?“ fragt die Dame hastig. „Bitte, Liebe, führen Sie mich an sein Bett … ich bin seine Mutter.“

Schweigend sieht die Nonne die ungestüm Drängende an. „Zu spät, Mutter!“ spricht sie dann tonlos. Mit abgewandtem Gesichte weist sie nach dem Lager hin, auf dem sie soeben den ewigen Schläfer in das Todtentuch gehüllt hat.

Ein herzzerreißender Schrei, wie er nur einer Mutterbrust entströmen kann, durchzittert den stillen Raum – und schmerzgebrochen liegt die Mutter neben der Leiche ihres Sohnes. –

Wir erzählen keine erfundene Geschichte, wenn wir auch den Namen der Dame und ihres Sohnes nicht nennen und nur angeben wollen, daß dieser als Fähndrich dem österreichischen Regiment Prinz von Holstein angehört hatte. In den stillen Häusern, in welchen die todeswunden Kämpfer ächzen und fern von ihrer Heimath und von ihren Lieben in namenloser Qual den letzten Seufzer aushauchen, – dort haben sich Scenen abgespielt, wie sie erschütternder die Phantasie keines Dichters ersinnen kann, Scenen, vor deren Tragik das Herz wie vernichtet still steht.

„Ich habe Entsetzliches erlebt,“ erzählte uns später jene barmherzige Schwester, „in den Monaten, welche ich nun hier im Lazarethe bin, Schmerzlicheres aber als dies Zu spät! der unglücklichen Mutter ist kaum an mich herangetreten. Noch Stunden lang kniete sie neben den theuren Resten des geliebten Sohnes, bis ich sie endlich sanft am Arme nahm. Ruhig ließ sie sich hinausführen, das Auge voller Andacht gen Himmel gerichtet. ‚Dort‘, lispelte sie kaum hörbar, ‚dort oben, mein Joseph, komm’ ich nicht zu spät.‘ Stumm drückte sie mir dann die Hand und stumm ging sie aus dem Zelte, wo sie ihr ganzes Glück zurückließ.“




Eine Nacht auf der Ortler-Spitze.


In der Nähe der Grenze von drei Gebieten, der Schweiz, der Lombardei und Tirols, erhebt sich eine dreizackige Schneepyramide. Mächtige Gletscher, die nicht viel niedriger liegen, umgeben sie von allen Seiten und machen ihre Ersteigung zu einer besonders schwierigen. Der Botaniker Gebhard hat diese Bergkrone im Jahre 1805 zum ersten Male bestiegen, doch gilt es noch immer für eine ruhmreiche That, zu der Ortler-Spitze empor zu klimmen, und die Mitglieder der heutigen Alpenclubs versuchen deshalb gern ihre Kräfte an ihr. Der gewöhnlichste Ausgangspunkt ist das Dorf Travoi, wo man Führer, Seile und die sonstigen Requisiten einer Bergbesteigung findet.

Von Travoi – erzählt ein Tourist, der mit einem Gefährten im verflossenen Sommer das Wagstück unternahm – führt der Weg zuerst durch Wiesen und tritt dann in einen düstern Fichtenwald ein, der im Winter von Bären besucht wird. Wir waren um ein Uhr Nachts aufgebrochen und erreichten kurz nach drei Uhr eine kleine Capelle, in der drei Strahlen eisig-kalten Wassers aus der Brust von steinernen Heiligenbildern hervorsprudeln. Bei dem Licht unserer Laterne sah der kleine Raum, in dem wir unsern Durst löschten, wahrhaft gespenstisch aus. Bald darauf wurde es Tag und um fünf Uhr verließen wir die Wälder und stiegen eine lange, mit losen Steinen bedeckte Höhe hinan, welche uns an den Fuß der ersten Schneefelder brachte. Hier legten wir unsere Eissporen an, die uns auf den Felsen lästig genug wurden, aber auf Eis und hart gewordenem Schnee die besten Dienste leisteten.

Drei Stunden später erreichten wir eine Felsenhöhe, die uns eine großartige Aussicht auf die umliegenden Schneefelder, Gletscher und Höhen gewährte, und machten einen halbstündigen Halt, während unsere Führer vorausgingen und in eine Gletscherwand, die wir zu ersteigen hatten, Stufen hieben. Zum Unglück für uns war sie von frischem oder weichem Schnee ganz entblößt, so daß wir uns so nahe als möglich an den Felsen hielten, die zu unserer Rechten lagen. Hier war die größte Vorsicht nöthig, denn wir durften die ungeheuren Massen von Steingeröll, die hier lagen, kaum berühren, so donnerten sie mit furchtbarer Geschwindigkeit die fast senkrechte Wand hinab. Zweimal hatten wir uns um vortretende Klippen zu schwingen und es darauf ankommen zu lassen, ob der Kalkstein, an den wir uns anklammerten, fest oder eben so verwittert sei, wie die heruntergefallenen Stücke. Natürlich waren wir Alle mit Seilen an einander befestigt und thaten jeden Schritt mit der größten Vorsicht, da ein einziger Fehltritt für uns sammt und sonders verhängnißvoll werden konnte. Die allerschlimmste Stelle war die, wo zwischen dem Felsen und einem schrecklichen Abgrund blos eine Leiste von zwei Fuß Breite blieb, die mit losen Steinen bedeckt war.

Nach zwei Stunden des schwierigsten Steigens erreichten wir eine kleine Ebene, und nachdem wir über eine Klippe weggeklettert waren, lagen mehrere mächtige Dome von gefrorenem Schnee und Eis vor uns, die eine endlose Ausdehnung und Höhe zu haben schienen und von mehreren Spalten durchzogen wurden. Der Tag war außerordentlich heiß und wir hatten uns so angestrengt, daß wir wenig zu essen und zu trinken vermochten. Die Führer hatten uns versprochen, uns bis Mittag auf den Gipfel zu bringen, aber es war fast drei Uhr geworden, ehe wir den ersehnten Punkt erreichten. Endlich standen wir auf dem Riesen Tirols, dreizehntausend Fuß über dem Meere, und vor uns entfaltete sich ein Panorama der Schweizer und Tiroler Gebirge in ihrer ganzen Glorie, welches Alles übertraf, was ich zuvor gesehen hatte. Der Tag war prachtvoll und die Gletscher und Eisfelder ringsum blitzten wie Edelsteine im hellen Sonnenschein.

So schwer es uns wurde, uns von der prachtvollen Aussicht zu trennen, mußten wir doch bald an den Rückweg denken. Wir hatten die unter der höchsten Spitze liegenden Dome von gefrorenem Schnee und Eis und ihre Spalten fast überwunden, als mein Freund Robert ausglitt und mich mit sich fortriß. Die starken Arme unserer Führer hielten uns sofort auf, aber im ersten Moment war das Gefühl des Ausgleitens an einer solchen Stelle ein wahrhaft fürchterliches. Das Wetter begann sich zu ändern; im Norden stieg eine schwarze Wolke auf und die Schweizer Gebirge zeigten sich in der wunderbaren Klarheit, die einen Sturm ankündigt. Wir kamen nun zu der Gletscherwand, die uns so viel zu schaffen gemacht hatte und die abwärts zu steigen noch schwieriger war. Ich ging voran, vom Führer Schäff am Seile gehalten, Robert folgte, mit dem Führer Oertel auf dieselbe Art verbunden.

Es ging gegen Sonnenuntergang und die Berge boten einen wunderbaren Anblick dar. Ueber den obern Theil des Himmels zog sich ein mächtiger, schwarzer Wolkenvorhang, unter dem Myriaden von Gipfeln buchstäblich gleich düstern Feuerflammen leuchteten, die aus einem Meere von Gold aufstiegen. Das Schauspiel war im höchsten Grade ehrfurchtgebietend, es glich mehr einer Vision aus einer andern Welt, als irgend einer Erscheinung, die man auf unserer Erde zu sehen erwartet. Fast wurde es sieben Uhr, ehe wir die erste Hälfte der Gletscherwand hinabgestiegen waren, und wir athmeten freier, als wir die Felsen erreichten, die uns beim Steigen einen Ruhepunkt gewährt hatten. Das Gewitter kam langsam, aber sicher näher, und wir beeilten uns, die untere Hälfte der Gletscherwand zurückzulegen. Unsere Führer wählten hier einen andern Weg, und das sollte uns in unvorhergesehene Schwierigkeiten verwickeln.

Die Schrecken der oberen Gletscherwand erneuerten sich, und da das heranziehende Gewitter die Luft immer mehr verdunkelte, so wurde es äußerst schwierig, die Füße sicher zu setzen. Bald traten wir vom Felsen auf das Eis herunter, bald kletterten wir vom Eise auf den Felsen hinauf, bis wir dachten, daß der Weg nicht schlechter werden könne. Noch immer sahen wir kein Ende und es wurde bald gewiß, daß wir die Nacht auf der Ortler-Spitze zubringen mußten. Das war eine schreckliche Aussicht, da

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 677. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_677.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)