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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

stürmischer und leidenschaftlicher. Ich sah, daß das auf die Länge nicht gut thun konnte, ich fragte mich, warum sie meine aufrichtige, herzliche Zuneigung nicht erwidern wollte, und fand, daß ich ihr wohl zu kritisch und ablehnend sei, daß ich mich ihren excentrischen Träumereien nicht genug anschmiegte. Da änderte ich mein Verfahren. Statt sie zu widerlegen, suchte ich ihre weltanklagenden Vernünfteleien zu rechtfertigen, statt ihre Thränen zu trocknen, lockte ich sie grausam hervor. Ich erzählte ihr von unserem deutschen Vaterlande und seinen getäuschten Hoffnungen und von dem harten Brode der Verbannung, ich brachte ihr Bücher und Zeitschriften, während ich sie vorher nicht genug davor zu warnen wußte, und siehe, bald glaubte ich sie mehr und mehr für mich gewonnen zu haben.

Da brachte ich ihr eines Abends die Lieder Heinrich Heine’s, von dessen qualvollem Lebensende ich ihr Manches mitgetheilt hatte, natürlich nicht den deutschen Heine, es war die Uebersetzung seines unglücklichen, wahnsinnigen Freundes Gerard de Nerval. Sie dankte mir auf die liebenswürdigste Weise, und als ich sie zum Nachtgruße auf die Stirn küßte, bat ich sie noch lachend, sich und dem todten Dichter ja eine ruhige Nacht zu gönnen. Aber als ich des andern Morgens, wie gewöhnlich, zu ihr kam, flog sie mir in holdseligster Aufregung entgegen, schlang die Arme um mich und tiefaufathmend lohnte sie mich mit dem ersten Kusse. Sie hatte die ganze Nacht hindurch Heine gelesen, und diese Nacht hatte mein Loos entschieden. Wunderliches Mädchen! Immer und immer wieder las sie, an meiner Seite sitzend, die Widmungsworte, die ich ihr in das Buch geschrieben, und sie war ganz Wonne und Zärtlichkeit. Von da begann ein prächtiges Liebeleben für uns, das mich zwei Jahre hindurch fesselte und beglückte. Je sicherer sie sich in meiner Liebe wußte, desto beruhigter ward ihr Gemüth, desto gesünder ihr Geist und die weltschmerzlichen Schwärmereien fielen sie in immer größeren Pausen an. Wenn ihre Vergnügungen früher schon unschuldigster Art gewesen, wie sie denn natürlich niemals die Closerie besucht hatte, so mied sie dieselben von nun an ganz und gar und wollte nur für mich und mit mir wirken und glücklich sein. Bücher und Verse lagen im Staube und nur der französische Heine gehörte zu den Laren ihres Heerdes, und das elegante Büchlein war bald ganz zerlesen. Am glücklichsten war sie, wenn sie Abends nach gethaner Arbeit mit mir den beleuchteten Quai entlang wandeln oder im schattigen Gärtchen hinter der Notre-Dame sitzen oder im Theatre français ein classisches Drama hören durfte. Ihr feines Verständniß und zumal ihre ungetrübte sittliche Anschauung, ihr feiner Tact, ihr gesundes Urtheil zeigten sich hier und bei hundert andern Gelegenheiten in bewundernswerther Weise. So besonders einmal, als ich sie beredet hatte, die vielgefeierte Mademoiselle Theresa, die Königin der Cafés chantants, mit anzuhören. Als das entzückte Volk über die kreischenden Jodler, das Fußstampfen der modernen Sappho jubelte, da faßte mich meine gute Madelon am Arme, zog mich aus der Menge und bat mich, sie niemals wieder an diesen Ort zu bringen. „Armes Paris,“ rief sie damals aus, „dich lockt nur noch das Ueberraschende, und das Ueberraschende dieser Scene ist die Frechheit, der wilde Laut, der ungebunden aus der gemeinen Seele bricht!“

Wie konnte sie in edlem Zorne aufwallen, wenn wieder eine ehrliche Zeitung geknebelt wurde, wieder ein Kämpe des Lichts in die Verbannung ging; wie leuchtete ihr Auge, als ich ihr an der Porte St. Denis die schlecht abgekratzten Worte zeigte, die nun wieder, für jedes Auge lesbar, aus dem grauen Steine hervorgetreten sind: „Liberté, Egalité, Fraternité!“

So war sie, meine gute Braut, mein einziges Kleinod, das ich für unverlierbar hielt! Ich war ganz glücklich und dachte schon daran, mein Liebchen zum Maire zu führen.

Lassen Sie mich zu Ende. kommen, Freund! Das sonnige Eiland unsers Glücks deckte nur eine Wolke, das war ihr Bruder. Seit mich die innigste Liebe mit Madelon verband, wandte er sich immer mehr von uns ab; immer düsterer und verschlossener ward der vereinsamte Mensch, und zuletzt zog er sogar von seiner Schwester hinweg in eine andere Wohnung. Madelon ahnte nichts Schlimmes, nur mich erfüllte die größte Besorgniß um ihn. Ach, sie war nur zu gerecht!

Vor einigen Wochen ward ich in seine Wohnung geholt, eine stille Menschenmenge umgab das Haus, und als ich in sein Zimmer trat, lag er, von weinenden Frauen umgeben, eine Leiche, auf dem ärmlichen Lager. An einem Laternenpfahle hatte man ihn gefunden, wie man einst Gerard de Nerval fand, seinen Lieblingspoeten.

Madelon lag zu seinen Füßen, die sie krampfhaft umfaßte. Mit herzerschütternder Stimme rief sie seinen Namen, ihn um Verzeihung bittend, und als ich hinzutrat, sie leise hinwegzuziehen suchte, da stieß sie mich zurück und, das Auge halb gebrochen auf mich gerichtet, rief sie: „Hinweg! Du hast ihm meine Liebe gestohlen. Meine Liebe war ihm Alles. Als er die verloren hatte, verlor er sich selbst!“ Ich schonte sie, ließ sie ihren Schmerz austoben. Ich wartete auf eine Lösung ihres Paroxysmus, aber ich wartete vergebens. Keine Thräne vergoß sie, nur seinen Namen rief sie immer und immer wieder und in wiederholten Selbstanklagen schüttete sie ihren Jammer aus. Als die Abenddämmerung das Zimmer verdunkelte, versuchte ich es nochmals, sie mit liebevollen Worten hinwegzuführen, aber wieder stieß sie mich zurück und es war ein tiefeinschneidendes Lachen, das nie in mir verhallen wird, als sie mich mit den Worten verhöhnte: „Wo ist nun das Glück, das Du mir und Dir versprochen? Da liegt es! Habe ich es Dir nicht gesagt, es giebt kein Glück für die Armen? Das Spital, der Laternenpfahl ist ihr Ende, ihr Glück ein lustiger Sprung auf dem Tanzboden!“ Dann lag sie wieder stumm bei dem Todten und so lag sie die ganze Nacht hindurch. Ich blieb; sie duldete mich.

Als man des andern Tags die Leiche hinwegbrachte, welcher Jammer! Die Nachbarn begleiteten den Todten nach dem Mont Parnasse, Madelon verwehrte mir, ihnen zu folgen.

So lag sie acht Tage in einem Geistesstarrkrampf nur zuweilen sang sie jenen Vers vor sich hin, ach! und es war kein Leichencarmen, irgend ein leichtfertiges Couplet war es, das sie, wer weiß wo, aufgelesen hatte. Nur die Worte flüsterte sie manchmal: „Tanzboden, Spital, Laternenpfahl!“

Endlich ward sie ruhig, aber ihre Ruhe bereitete mir noch größeren Kummer. In der entschiedensten Weise erklärte sie mir, daß ich sie verlassen müsse, daß der Schatten ihres Bruders zwischen uns stehe und daß unsere Vereinigung ein Frevel wäre. Umsonst bat und bestürmte ich sie, sie blieb dabei, daß wir uns trennen mußten, nur daß sie das bald mit kalter Strenge, bald mit der alten holden Sanftmuth betheuerte, es waren entsetzliche Tage!

Zuletzt verbot sie mir mit unbesiegbarer Festigkeit, sie ferner zu besuchen, ihr Zimmer war für mich verschlossen. Ob ich stundenlang vor dem Fenster in der Rue d’Hauteville, wo sie arbeitet, oder vor der Gartenmauer an ihrer Wohnung vorüber ging, sie merkte es wohl, aber es rührte sie nicht. Ich armer Thor, wie glücklich war ich schon, wenn ich sie nur sehen durfte!

In den letzten Tagen fiel es mir auf, daß sie in der Nacht noch spät allein ausging. So oft ich ihr folgte, immer hatte ich sie in einem der vielen Gäßchen unseres Quartiers verloren. Gestern Abend nur entzog sich ihre Spur mir nicht, aber, Allmächtiger, wohin führte sie mich! In die Closerie des Lilas! Als ich, vor Schrecken bebend, hinter ihr eintrat, merkte ich, daß sie alsbald von vielen Verehrern umringt war, ich merkte, daß sie sich nicht zum ersten Male auf diesem Boden bewegte. Sie war von den Ausgelassenen die Ausgelassenste, sie sang und lärmte und tanzte – jetzt faß’ ich’s nicht, daß ich das mit ansehen konnte! Im Schwarm verloren, erkundigte ich mich nach ihr und hörte, daß sie seit etwa acht Tagen sich hier eingefunden habe und daß sie sofort aufgefallen sei, weil sie, in tiefer Trauerkleidung, so tolllaunig sich gebehrdet hatte. Ich nahm allen Muth zusammen und näherte mich ihr. Als sie mich erblickte, schrak sie zusammen und erbleichte, aber gleich darauf trat sie, ein Liedchen trällernd, auf mich zu, und mit dem alten liebevollen Tone flüsterte sie mir dann in’s Ohr: ‚Begreifst Du nun, daß Du mich lassen mußt!‘ Die Unselige! Um mich von sich loszureißen, hat sie diesen Schritt gethan. Nicht wilde Lust, die wahnwitzigste Berechnung trieb sie hierher. Sie hat sich mir geopfert!

Wie sinnlos stürzte ich hinaus, sinnlos irrte ich die ganze Nacht durch die Straßen. Heute Mittag brachte mir ein Knabe ein Buch, es war Nerval’s Heine, meine Widmungsworte waren herausgeschnitten. So hab’ ich sie verloren, das arme räthselhafte Wesen! – Als ich Sie heute erblickte, da schoß mir der Gedanke durch den Kopf: wie, wenn Du sie doch noch nicht ganz aufgäbest, wenn Du sie doch erst durch einen Unbefangenen prüfen ließest! Darum lud ich Sie hierher. Verzeihen Sie einem Wahnsinnigen ein so wahnsinniges Spiel! Reden Sie nicht von ihr, erzählen Sie, wie Sie sie gefunden! Ich weiß, ich habe sie verloren.“

Erschüttert schlug der bedauernswerthe Mann die Hände vor das Gesicht, über das die hellen Thränen stürzten. Auch mir war das Weinen nahe. Was sollte ich ihm sagen? Ich drückte ihm die Hand und schaute still vor mich hin. Bald erhob er sich und sagte mit fester Stimme: „Gehen wir,“ und schweigend, wie wir hierher gekommen, maßen wir den Weg zurück. Als wir uns am Café Madrid trennten, rief er mir noch mit einem Tone, dessen Bitterkeit ich nie vergessen werde, die Worte nach: „Noch Eins, Freund, Ihren Heine werde ich nie wieder lesen.“

Mehrere Tage lang sah ich meinen Freund nicht, da führte mich ein längst gegebenes Versprechen in die Brasserie (Brauerei) Fanta. Es ist das ein freundliches Etablissement, nahe der neuen Oper, dessen deutscher Besitzer vortreffliches Wiener Bier verzapft. Aber nicht in den oberen, eleganten Räumen der Brasserie war mein Aufenthalt, in die Kellertiefe hinab wies mich der deutsche Garçon, wo sich unsere Landsleute eine gemüthliche Kneipe geschaffen haben. Da saßen sie, aus aller Herren Ländern zusammengeführt, die Hemdärmel aufgestülpt, die Arme aufgestemmt, das glimmende Pfeifchen im Munde, in alter burschikoser Weise, ein munteres, tüchtiges Völkchen, bei dem sich auch Jaell, der berühmte Pianist, in seiner einfachen Art gern einfand. Ein prächtiger Kaufmann aus Bahia, ein geborner Welfenunterthan, der einstmals zu Göttingen seine Klinge schlug, war dazumal der Senior der bunten Landsmannschaft. Ihm sei mein deutscher Gruß über das Weltmeer gesandt! Manches wackere Wort über die gute Heimath, über das Wenige, was sie errungen, über das Viele, was ihr noch fehlt, flog herüber und hinüber, Commerslieder erklangen in alter herziger Weise, und zum Schlusse wurde sogar in gediegener Ausführung ein „Salamander“ gerieben.

Mein Freund hatte sich gegen Mitternacht auch eingefunden. Er saß theilnahmlos und still unter den Fröhlichen, und als das Gespräch über die deutschen Dichter sich verbreitete und die unvermeidlichen Anekdoten über Heine wieder aufgefrischt wurden, zog eine tiefe Wolke über seine Stirn und unmuthig wandte er sich zu mir: „Immer wieder Heine! Ich gedachte, ruhigen Abschied von einigen Freunden nehmen zu können. Morgen gehe ich nach Deutschland zurück.“

Als nun gar ein junger Landsmann mit kräftiger Stimme das Heine-Mendelssohn’sche Lied „Du schönes Fischermädchen“ anhob, da drückte mir der Schweigsame die Hand und eilte ohne Abschied die Stufen hinan. Mir aber stand die ganze Nacht hindurch die Gestalt des räthselhaften Mädchens mit dem großen, gebrochenen Blicke vor der Seele, und dazwischen erklang es wieder so sieghaft schön und beruhigend:

Mein Herz gleicht ganz dem Meere,
Hat Sturm und Ebb’ und Fluth,
Und manche schöne Perle
In seiner Tiefe ruht.




Zur Nachricht.

Eine weitere Quittung über die inzwischen wieder sehr zahlreich eingegangenen Beiträge für die Verwundeten und Hinterbliebenen der Gefallenen wird in nächster Nummer erfolgen.

Die Redaction.

Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 664. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_664.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)