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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Armen nach. Ich traf sie noch unten an der Ecke der Straße, die Stirn an den kalten Stein gelehnt, ein trostloses Bild des Jammers. Ich redete sie an … Die Frau hat andern Tages ihren Miethzins bezahlen können und für ihre vier Kleinen sind mit Hülfe wackerer Freunde auch noch einige Groschen übrig geblieben für Brod und einige Scheitchen Holz zum Wärmen …

Ihnen, Madame, habe ich nur wenig noch zu sagen! Wenn es wahr wird, was uns das heilige Buch verkündet, wenn einst ein Richter sollte richten über uns und unsere Thaten und Recht und Gerechtigkeit sollte gesprochen werden über das, was wir vollbracht und unterlassen – der dort oben, der die Herzen und Nieren prüfet, wird dann nicht fragen: was und wie hast du geglaubt auf Erden? Er wird nicht fragen, ob wir nach dieser oder jener Lehre Gutes gethan, ob wir nach dieser oder jener Formel gehandelt, ob wir an diesem oder jenem Evangelium gehangen! Er wird einfach fragen: was und wieviel hast du gethan auf Erden und wird die Thaten zählen mit dem Auge der Liebe. Und wenn dereinst mit diesem Maße gemessen, wenn wirklich, wie uns verheißen ist, einst der Richter die Wagschale hält über das Thun und Lassen der Menschen und endlich die Maske der glatten Lüge und des eitlen Tugenddünkels fällt: dann, Madame, wird die Schale Ihres Glaubens hoch in die Luft flattern und der Spruch anders ausfallen, als Sie gehofft. Denn für Sie wiegt keine That selbstloser Liebe mit, keine Thräne des Dankes – Sie haben nichts als Ihren Glauben, jenes starre, todte Wort, dem der süße, mild-belebende Hauch des Friedens und der Liebe fehlt. Dann freilich dürfte es Ihnen wie Schuppen von den Augen fallen, daß auf Erden nur ein Gesetz existirt, vor dem sich alle Gedanken des weitumfassenden Geistes, alle Gefühle und Leidenschaften der Creatur demuthsvoll beugen, nur ein Gesetz, an das wir unbedingt glauben, an das wir all’ unser Thun und Lassen, unser Ringen und Streben, unsere Schmerzen und Freuden anlehnen sollen, ein Gesetz nur, Madame – das Evangelium der Liebe!

Leben Sie wohl und verzeihen Sie

Ihrem ergebenen Diener
E. K.     




Ein Soldatenfürst des vorigen Jahrhunderts.
II.


Ungefähr ein Jahr war seit Leopold’s Aufbruch nach Italien verflossen, als sich am 24. Februar 1695 in den damals noch sehr öden und traurigen Umgebungen Dessau’s ein kleiner Reisezug zeigte. Es war der junge Landesfürst, welcher nach vierzehnmonatlicher Abwesenheit in seine Heimath zurückkehrte. Nicht weit vom Thore ließ er halten, sprang hastig aus dem Wagen, eilte im Schneesturm durch die engen, einsamen, armselig dorfartigen Straßen und stand schon nach wenigen Augenblicken sprachlos und mit der Miene tiefster Erregung vor dem überraschten, züchtig erröthenden Bürgerkinde, das er in längerer Entfernung hatte vergessen sollen. Es muß dieses Wiedersehen ein prächtiger Anblick, eine unvergleichlich originelle und schöne Scene gewesen sein. Nur die Gegenwart der Eltern hinderte einen Ausbruch ungezügelter und rauher Zärtlichkeit. Erst als er die Geliebte begrüßt, ihr stumm und ohne ausdrückliche Betheuerung diesen Beweis unerschütterter Treue gegeben hatte, verfügte er sich zu seiner Mutter, die ihn unter Thränen heißester Zärtlichkeit in ihre Arme schloß.

Auch in dem Städtchen wurde bei der Nachricht von seiner Wiederkehr und bei seinem Anblicke eine lebhafte Freude laut. Denn so furchtbar er auch den Seinigen von früher Kindheit an gewesen, so wenig sein Zorn jemals eine Schranke, seine tobende Eigenwilligkeit eine Rücksicht gekannt, so oft er also nach allen Seiten hin beleidigt und gekränkt, erschreckt und geschädigt hatte, so lag doch wiederum in seiner derben Natürlichkeit, in der ganz seltsamen Eigenart, dem groben Humor und vor Allem in der immer dreist und fest zugreifenden Unerschrockenheit seines Wesens ein gewisses Etwas, das Bewunderung erregen und ihm das Zutrauen, ja eine aufrichtige Liebe des in Knechtssinn versunkenen, eingeschüchterten, ohnehin an Püffe und Stöße gewöhnten Musterunterthanen jener Zeit gewinnen mußte. Das wuchtige Commando, die oft spaßhaften Gewaltsamkeiten und übermüthigen Streiche des „jungen Herrn“ hatten den Leuten während seiner Abwesenheit gefehlt und sie jubelten daher und freuten sich, als sie ihn endlich wiedersahen. War er doch einer jener kraftvollen Stämme, an welche die Schutzbedürftigkeit eines ausgedörrten Bürgerthums ihr unselbstständiges, gehalt- und gedankenloses Dasein so gern zu lehnen pflegte.

Was auf der langen Reise aus ihm geworden war? Nun, die ihm näher kamen, überzeugten sich bald, daß die eigenthümlich schwere, metallartige Härte seiner Natur sich in der Ferne eher gefestigt, als gemildert hatte; er kam entwickelt, aber nicht verändert zurück, sein Wille war vielmehr noch unbiegsamer, seine Leidenschaften waren noch stärker geworden. In gründlicher Durchstürmung der Genüsse und Lustbarkeiten Italiens hatte die ganze Sinnlichkeit des vollsaftigen und schrankenlosen Jünglings sich ausgetobt. Seinen Geist jedoch auf Höheres und Ideales zu richten, ihm dort Geschmack an Alterthümern und Kunstwerken einzuflößen, hatte sich als fruchtlos erwiesen; was ihm Derartiges gezeigt wurde oder von selber sich ihm in den Weg stellte, würdigte er kaum eines Blickes. Dagegen war er auf den Reitbahnen, den Fechtböden und in den Ballhäusern Rom’s, Neapel’s und Turin’s ein steter Gast und setzte hier durch Kühnheit und Fertigkeit die größten Meister in Erstaunen. Auf der Heimreise verweilte er noch in Wien, wo er das Anerbieten des Kaisers, ihn auf den Antrag seiner Mutter zur sofortigen Uebernahme der Regierung für großjährig erklären zu wollen, mit der ganzen Keckheit des ihm eigenthümlichen Trotzes zurückwies: davon habe er nichts gewußt, er sei um seine Bewilligung nicht befragt worden und wolle deshalb mit dem Regierungsantritt nun warten, bis er wirklich einundzwanzig Jahre alt sei.

Hatte so die Mutter ihren Zweck nicht erreicht, die Last der Regierung von ihrem Herzen gewälzt zu sehen, so waren auch in anderer Hinsicht ihre Wünsche unerfüllt geblieben. Aller Glanz und alle Lust, alle ernsten und heiteren Eindrücke der Reise, sowie alle mißbilligende Vorstellungen der beunruhigten Verwandten hatten die Liebe zu „Mamsell Föhse“, wie man die schöne Louise nannte, nicht aus dem Herzen des wilden Sohnes verdrängen können. Man sah, daß die lange Trennung und der Widerstand und Widerspruch, dem sein eiserner Wille überall begegnete, die Gluth dieser Neigung nicht geschwächt, sondern nur immer mehr zu unvertilgbarer Flamme angeblasen hatten. Er wollte endlich den Gegenstand derselben sich gesichert sehen und zu seinem Verlangen und dem Zorn über die Hindernisse, welche sich demselben entgegenstellten, gesellte sich auch noch die beschwingende Macht des Argwohns und der Eifersucht.

Noch hatte bisher kein junger Mann es gewagt, sein Auge zu der holden Jungfrau zu erheben, um welche die auszeichnende Gunst des hochmächtigen Gebieters gleichsam einen geweihten und unnahbaren Kreis gezogen hatte. Scheu und ängstlich wichen ihr die Patriciersöhne des Oertchens aus; sie wußten, daß in solchen Fällen die fürstlichen Herren keinen Spaß verstanden und schon der bloße Verdacht einer Mitbewerbung Gefahr und Unheil zur Folge haben könne. Nur ein naher Verwandter der Apothekerfamilie, ein sehr gebildeter und liebenswürdiger junger Arzt, der während der Abwesenheit des Fürsten von weiten Studienreisen zurückgekehrt war, glaubte sich auch nach der Heimkehr des Letzteren an jene ängstlichen Rücksichten eines furchtsamen Spießbürgerthums nicht kehren zu dürfen; er besuchte nach wie vor das Haus des Oheims und Leopold sah ihn dort öfter, als ihm lieb war. Ob die ehrbaren Eltern diese Besuche des Neffen begünstigten und durch eine baldige Verheirathung der Tochter dem Stadtgerede und den ihrer Ansicht nach zu keinem reellen Ziele führenden Bewerbungen des Fürsten ein Ende machen wollten, ist niemals aufgeklärt worden. Genug, Leopold bemerkte mit grimmigem Mißfallen einen ganz unbefangenen, harmlosen, aber freundlich verwandtschaftlichen Verkehr zwischen seiner Anne-Liese und dem angenehmen Vetter. Ein kochender Groll gegen denjenigen, der den Muth besaß, ihm gegenüber die Rolle eines Nebenbuhlers zu

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