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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

kehrten zur Propstei zurück. Hinter ihnen im Walde bliesen wieder die Hörner, bellten die Hunde, knallten die Büchsen, riefen die Menschen, wurde das ganze fröhliche Jagdleben wieder laut. Der Großvater und sein Enkelkind saßen im Wagen stumm beisammen. In der Propstei führte der Präsident das Mädchen in ihr Zimmer. Dort erst sprach er wieder.

„Es war Dein Vater, Agathe!“

Das Kind erschrak.

„Meine arme Mutter!“ rief sie schmerzlich aus und verhüllte ihr Gesicht. Der Präsident küßte ihre Stirn.

„Du sollst glücklich werden, mein theures Kind, glücklicher, als sie war.“


3. Der Regierungs-Präsident.

Der Präsident hatte sich in sein Arbeitszimmer begeben und saß dort lange still, den Kopf in die Hand gestützt. Es waren keine Gedanken der Trauer und des Schmerzes, denen er sich hingab; seine Blicke wurde finsterer, feindlicher, man sah nur Haß und Verachtung darin, einen Haß und eine Verachtung, wie gegen die ganze Welt. Er war noch in seiner vollen Trauerkleidung. Der Hut mit dem Trauerflor lag neben ihm auf einem Tische. Er erhob sich und zog eine Klingelschnur. Sein Kammerdiener erschien.

„Bist Du fertig, Konrad?“

Der alte Mann erbebte.

„Gnädiger Herr, heute? In dieser Stunde? In dieser Viertelstunde?“ bat er.

Es war noch keine Viertelstunde seit ihrer Rückkehr von dem Leichenbegängnisse verflossen.

„Schweig’!“ rief der Präsident.

„Herr, ich beschwöre Sie –“

„Gehen wir.“

Der Diener schwieg. Der Präsident ging an seinen Secretär, nahm einen Dolch heraus, steckte ihn zu sich und setzte seinen Hut mit dem Trauerflor auf. Auf dem Tische brannten zwei Wachskerzen, denn es war schon dunkler Abend. Der Diener wollte sie auslöschen, dem Präsidenten kam aber ein Gedanke.

„Laß sie brennen!“

Der Diener ließ sie brennen und Beide verließen das Zimmer.

„Verschließ’ die Thür,“ befahl der Präsident.

Der Diener verschloß die Thür und der Präsident nahm den Schlüssel zu sich. Wer von außen die Fenster des Zimmers sah, konnte meinen, der Präsident sei darin. Es war sein Arbeitszimmer und lag im ersten Stock, am Ende eines kleinen Seitencorridors. Zehn Schritte davon war eine unscheinbare, schmale und niedrige Thür, die verschlossen war. Der Präsident zog einen Schlüssel hervor und schloß sie auf. Beide schritten durch dieselbe. Der Präsident verschloß sie wieder an der anderen Seite und ließ den Schlüssel hier stecken. Er wollte also zurückkehren und bei seiner Rückkehr das Schloß so schnell wie möglich öffnen können.

Herr und Diener befanden sich in einem völlig dunklen Raume; man konnte gar nichts darin unterscheiden. Gleichwohl gingen Beide mit sicherem Schritte weiter; sie mußten oft hier gewesen sein. Sie hatten nur wenige Schritte zurückzulegen, als sie nach unten steigen mußten. Es war eine schmale, enge Wendeltreppe, die sie hinunterführte. Sie stiegen tief; die Treppe zählte viele Stufen. Wieder standen sie vor einer verschlossenen Thür. Der Präsident zog wieder einen Schlüssel hervor und öffnete die niedrige, aber breite Thür. Man hörte, daß sie von Eisen war; sie ging schwer in ihren Angeln. Sie durchschritten auch sie. Aber der Präsident verschloß sie nicht wieder; er lehnte sie nur an und den Schlüssel ließ er im Schlosse auf der Seite, von der sie gekommen waren. Bei der Rückkehr konnte er sie um so schneller hinter sich verschließen. Sie waren wiederum in einem völlig dunklen Raume und sie gingen darin weiter, sicher wie vorhin. Sie gingen in einem langen Gange und an dem Widerhall ihrer Schritte hörte man, daß er schmal und oben gewölbt war. Auf den Seiten war feste Erde; es mußte ein unterirdischer Gang sein. Nach vielleicht einer Viertelstunde Gehens erreichten sie sein Ende. In den letzten Minuten waren ihre Schritte langsamer geworden; sie waren leiser aufgetreten; der Präsident, der vorauf schritt, hatte einige Male angehalten, als wenn er horche. Gesprochen hatten sie auf dem ganzen Wege kein Wort. Sie standen vor einer Mauer und horchten Beide, wie mit angehaltenem Athem. Sie vernahmen nicht das mindeste Geräusch, nicht diesseits, nicht jenseits der Mauer.

„Suchen wir, Konrad,“ sagte der Präsident.

Es waren die ersten Worte, die einer von ihnen sprach. Der Präsident suchte mit den Händen an der Mauer. Der Diener folgte seinem Beispiele und seinem Befehle nicht.

„Gnädiger Herr!“ erhob er noch einmal seine bittende und warnende Stimme.

„Schweig’!“ befahl ihm der Präsident wieder.

Aber der alte Diener gehorchte diesmal auch diesem Befehle nicht.

„Herr,“ sagte er, „um der Barmherzigkeit Gottes willen, die jeder Mensch einmal anrufen muß.“

„Thor!“ erwiderte ihm der Präsident.

„Herr, denken Sie an Gott!“

Der Präsident antwortete nicht.

„Denken Sie an seine Gerechtigkeit, auch hier auf Erden.“

Der Präsident lachte bitter.

„Gerechtigkeit? Ich sah sie heute an dem Sarge meines Kindes. Die Verführte, die Verrathene lag da mit ihrem gebrochenen Herzen! Und er –? Gerechtigkeit? Ja, ja! Aber was ist sie denn? Zahn um Zahn, Auge um Auge! So steht es ja auch in der Bibel. Und wo man so nicht wieder vergelten, wo man nicht das Auge für das Auge ausreißen kann? Was thut denn da die Gerechtigkeit? Da sucht sie nach einem Ersatz, nach einem Andern für das Eine. So auch ich! Ja, ja! Er ist ja der Landesherr, und dem Landesherrn gehört das Blut und der Schweiß seines Landes, also auch das Geld! Landesherrliche Casse! Dieb! willst Du zu mir sagen? Räuber? Mit dem Strange oder dem Zuchthause willst Du mir drohen? Bah! Hinterher können sie mich hängen oder einsperren, wenn das Geld erst mein ist. Aber haben will ich es; mein Kind soll reich sein. Und nun komm! Oder willst Du nicht? Fehlt Dir der Muth? Willst Du mich lieber verrathen, anzeigen? Geh’, geh’! Der Weg ist überall hinter uns offen, und ich kann hier allein fertig werden.“

Der Greis hatte die Worte mit einer krankhaften Heftigkeit gesprochen, mit einer Wuth, einem Fanatismus, der an Wahnsinn grenzte. Sein Anblick hätte ein Grauen erregender sein müssen, wenn man in der tiefen Finsterniß die dunkle Röthe hätte gewahren können, die sich durch sein graues, hohles Gesicht zog, das Beben seiner Lippen, das irre Leuchten und Flackern seiner finsteren Augen unter den buschigen, tief herabhängenden Brauen, die verzerrten Züge des ganzen Greisenantlitzes. Der Diener hatte kein Wort der Erwiderung mehr.

„Fassen wir an, Herr!“ sagte er.

Die Mauer, an der sie sich befanden, bestand aus großen, viereckigen Steinen. An den Steinen hatten die Hände des Präsidenten gesucht; dann auch die des Dieners. An einem der größten begegneten sie sich.

„Fassen wir an,“ sagte jetzt auch der Diener.

Aber in demselben Augenblicke ließ er los.

„Da war etwas!“

„Was sollte da sein?“ rief der eifrige, der halb wahnsinnige Greis.

Der Diener riß ihn in den Gang zurück.

„Ich hörte ein Geräusch.“

Der Präsident kam wieder zu sich.

„Wo war es?“

„Drüben, unmittelbar hinter der Mauer.“

„Horchen wir.“

Sie kehrten an die Mauer zurück; sie horchten wieder lange; sie vernahmen nichts.

„Du hattest Dich geirrt. Die Bureaustunden sind längst vorüber. Es kann Niemand mehr da sein.“

„Sie werden hier wachen – die ganze Nacht. Der Landrentmeister mußte heute an der Casse sein; er mußte entdecken, daß das Geld fehlte –“

„Er hätte mir Anzeige machen müssen, mir zuerst; ich bin sein Chef. Nur von mir konnten die weiteren Anordnungen ausgehen.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_635.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)