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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Gesicht der Todten zeigte das Unglück des Lebens, die Seligkeit des Himmels; es war so schön in seinen Leiden, in seinem Frieden. Agathe war allein bei der todten Mutter. Sie kniete neben ihr nieder, nahm ihre kalte Hand, drückte ihre warmen Lippen darauf und betete dann still. Was sie betete? Um wie Vieles hat ein frommes, gläubiges Kinderherz an dem Sarge der Mutter den lieben Gott im Himmel zu bitten, für sie, durch sie! Und durch die Mutter bat sie nicht blos für sich.

„O, gieb ihm die Kraft, daß er es trage!“ sprachen ihre Lippen einmal laut, aus dem tiefsten Grunde ihres Herzens.

Zu der Betenden trat der alte Kammerdiener des Präsidenten; er hatte die lauten Worte ihres Herzens gehört.

„Kannst Du es tragen, Du armes Kind?“ sagte er.

„Muß ich nicht, Konrad? Darf ich den Großvater verlassen? Er liebt mich über Alles. Ich bin ihm Alles.“

„Ja,“ sagte der alte Mann, „Du bist ihm Alles, er liebt nur Dich; o, Du weißt nicht, wie sehr er Dich liebt.“ Er sprach es so traurig, als wenn es ein Unglück sei.

In dem Nebenzimmer schlug eine Uhr sechs, da wurden im Vorzimmer Tritte laut. Die Thür öffnete sich und der Präsident von Ballard trat ein. Er war ein hoher, stattlicher, stolzer Greis. Seine Gesichtszüge hatten den finstern, strengen Ausdruck seines Wesens; es lag noch mehr darin, man sah in ihnen ein hartes oder ein gebrochenes Herz. Still stellte er sich an den Sarg und betrachtete lange die Leiche. Er sprach kein einziges Wort; in seinem Gesichte bewegte sich kein Muskel. Dann hob er mit dem Diener den Deckel auf den Sarg, öffnete darauf selbst die Thür des Vorzimmers und sechs schwarz gekleidete Männer traten ein, hoben den Sarg auf und trugen ihn aus dem Trauergemach. Der Präsident, seine Enkelin und sein alter Kammerdiener Konrad folgten. Draußen vor dem Hause wurde der Leichenzug nur um wenige Menschen größer. Der Präsident und seine Enkelin setzten sich in einen Wagen, vor welchem die Träger mit der Leiche gingen, hinter ihm der alte Konrad und noch zwei Diener des Hauses. Kein anderer Verwandter, kein Freund der Verstorbenen oder des Präsidenten hatte sich angeschlossen, sich anschließen dürfen.

Der Zug bewegte sich langsam und still dem Walde zu, der sich dicht und dunkel unweit der Propstei erhob. Dort bog er in eine lange, schmale Allee von dunklen Tannen und weißen Birken ein. An ihrem Ende erblickte man auf einem kleinen Hügel ein niedriges Gebäude von grauem Stein. Zu beiden Seiten der Allee drängten sich, hinter den Tannen verborgen, Menschen, die sich den stillen Zug ansehen wollten. Die Gesichter zeigten blos Neugierde.

Zwischen den Zweigen einer Tanne aber stand ganz allein ein junger Jägersmann. Sein frischblühendes, kräftiges und doch so mildes Gesicht trug den Ausdruck des tiefsten Schmerzes, als wenn er mehr verloren habe, als Alle, die in dem Trauerzuge waren, und sein schmerzlicher Blick war an dem Sarge bald vorübergeglitten, wollte dann sich aber einbohren in das Innere des festverschlossenen Wagens. Da erschien hinter dem Fenster des Wagens ein bleiches Mädchengesicht, es schien einen Vorwurf aussprechen zu wollen:

„Bist Du doch hier? Es zerreißt Dir ja nur wieder Dein armes Herz, und ich hatte Dich so sehr gebeten!“

Aber der Vorwurf blieb tief hinten in den thränenfeuchten Augen zurück und auch aus dem Herzen hatte ihn die heiße Liebe verdrängt, bevor er darin laut werden konnte, und ein Blick des weichen Herzens und seiner Liebe rief dem jungen Jäger zu:

„Für Dich habe ich ja an dem Sarge meiner Mutter laut zu Gott gebetet. O, trage, trage standhaft und männlich, damit nicht auch ich zu Grunde gehe!“

Und der junge Mann legte seine Hände auf sein Herz, zum Zeichen, daß er sie verstanden habe und daß er thun wolle, wie sie sage. Der Zug hielt an dem Fuße des kleinen Hügels, auf dem das graue, niedrige Gebäude sich befand, das hier unter Tannen und Trauerweiden lag. Es war seit zwei Jahrhunderten das Grabgewölbe der Freiherren von Ballard, denen es der Landesfürst zum Eigenthum geschenkt hatte. Der Greis warf seine finsteren Blicke wie drohend auf das alte Gemäuer, das so manches Mitglied seiner Familie aufgenommen hatte, in dem heute seine einzige Tochter zur ewigen Ruhe beigesetzt werden sollte. Dem bleichen Kinde an seiner Seite stürzten bange Thränen aus den Augen.

Der Präsident war ausgestiegen. Am Arme seines Enkelkindes schritt er die Stufen des Gewölbes hinan, die Diener folgten. Die tiefste Stille des Waldes und des Grabes herrschte rings umher. Plötzlich drangen aus der Ferne Töne hervor. Es waren lustige Klänge von Jagdhörnern, lautes Hundegebell; Schüsse fielen, Menschen riefen, Pferde wieherten. Den Greis durchzuckte es wie wilder Schmerz, wie wilderer Zorn. Seine Blicke flogen feindlich drohend zu dem Walde. Doch der stille Trauerzug mußte sich weiter bewegen unter den Klängen und Lauten der fröhlichen Jagd.

Der Sarg war beigesetzt, der Geistliche, der dem Zuge entgegengegangen war, hatte ein stummes Gebet gesprochen und nur der Präsident mit seinem alten Konrad und dem jungen Mädchen waren noch in dem Grabgewölbe zurückgeblieben.

„Sie war unglücklich,“ sprach der Präsident leise zu seiner Enkelin. „Wie sie wähnte, das Glück ihres Lebens gefunden zu haben, da war sie dem Verderben, dem Verrath in die Arme gefallen. Die eigene Mutter – Du sollst glücklich sein, Agathe; was ich ihr nicht verschaffen konnte, Dir bereite ich es. Was ihr seine Krallen in das Herz schlug, der schnödeste, der schmachvollste Verrath, er soll Dir nicht nahen –“

Der Greis schwieg. Die Töne der Jagd waren näher gekommen, er horchte ihnen. Agathe hörte sie nicht.

„Du sprichst von meinem Vater,“ sagte sie. „Wer war mein Vater? Ihr spracht nie über ihn, Du nicht, die Mutter nicht. Es war Euer Geheimniß; löse es mir hier an dem Sarge meiner Mutter!“

„Still!“ rief der Greis.

Draußen, unmittelbar vor dem Grabgewölbe, war ein Geräusch entstanden, Pferde waren herangesprengt, hatten gehalten; man hörte die Reiter absitzen, ihre Schritte der Gruft sich nähern. In das blasse Gesicht des Präsidenten stieg dunkle Röthe, in seinen Augen flammte wieder der wilde, feindliche Zorn. So wandte er sich zu der Thür, die plötzlich aufgerissen wurde. Ein Herr in glänzender Jagdkleidung, einen Ordensstern auf der Brust, stürmte laut in die stille Gruft der Todten, mit der Lust der Jagd, mit dem Uebermuth der Weinlaune, mit der Rücksichtslosigkeit eines hohen und hochmüthigen Herrn, der nie gehorchen mußte. Zwei andere Herren in reicher Jagdkleidung folgten ihm, Kammerherren oder Jagdjunker oder dergleichen. Jäger und Bediente sah man unten am Fuße des Hügels die edlen Jagdrosse halten.

Der Fürst stutzte doch, als er den Greis und das Mädchen sah. Sollte er hier umkehren? Aber er, der Herr, vor wem? Der Greis las es in dem stolzen Blicke des fürstlichen Jägers. Er trat ihm mit seinen flammenden Augen entgegen.

„Hoheit, ich begrabe meine Tochter!“

Weiter sprach er nichts. Durch das Gesicht des Fürsten flog eine plötzliche Blässe.

„Ah!“ rief er.

Aber mit dem Ausrufe hatte er sich gefaßt.

„Mein lieber Präsident, ich statte Ihnen meine Condolenz ab.“

Er sagte es mit der Kälte und Glätte einer ceremoniösen Vorstellung bei Hofe, dann wandte er seinen Blick auf das Mädchen. Er stand wieder überrascht durch die Schönheit des soeben zur Jungfrau gereiften Kindes. Aber auf einmal zuckte ein Gedanke in ihm auf.

„Ihre Enkelin?“ fragte er den Präsidenten.

Der Greis antwortete nicht, er nahm den Arm seines Enkelkindes und führte sie zu dem Sarge der Mutter; es war, als wenn er sie so vor dem Fürsten, selbst vor dessen Blicken nur, beschützen wollte.

Der Fürst wandte sich, das Schweigen, die Bewegungen des Greises waren ihm eine Antwort auf seine Frage gewesen. Noch einmal mußten doch seine Augen das Mädchen suchen, diesmal nicht ihre Schönheit; es war ein so ganz besonderer Blick, mit dem er sie betrachtete. Dann entfernte er sich rasch, eilte den Hügel hinunter, schwang sich auf sein Pferd und sprengte in den Wald zurück, Gefolge und Dienerschaft folgten ihm. Agathe hatte die Blicke des stolzen, vornehmen Herrn gesehen.

„Wer war er?“ fragte sie den Greis.

„Der Fürst des Landes.“

„Er sah mich so sonderbar an. Was wollte er von mir?“

„Frage nicht.“

Sie fragte nicht weiter. Dann verließen sie die Gruft und

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_634.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)