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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 41.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


In der Propstei.
Von. J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)


Eines Tages hatte der Präsident Briefe aus der Residenz erhalten, nach deren Lesung er sich den ganzen Tag in sein Cabinet einschloß. Am andern Morgen früh hatte er seinem alten Kammerdiener geklingelt, der mit ihm aufgewachsen und sein Vertrauter war. Er hatte lange mit ihm gesprochen; dann hatte der Diener gepackt und den Reisewagen bestellt. Eine halbe Stunde später waren Herr und Diener abgefahren; den ersten hatte kein Mensch auf der Propstei mehr gesehen. Der Kutscher war nur bis zur nächsten Station genommen worden, hier hatte der Kammerdiener Extrapostpferde bestellt; wohin, hatte der Kutscher nicht erfahren. Aber dieser hatte den Präsidenten gesehen, und als er zur Propstei zurückkehrte, sagte er: „Der gnädige Herr sah ganz verstört aus, fast nicht mehr wie ein Mensch.“

Nach sechs Wochen war der Präsident zurückgekommen; er brachte seine Frau mit, auch seine Tochter. Die Frau war leidend; sie verließ die Propstei nicht und sah Niemanden. Die Tochter war in tiefer Trauer; sie sei Wittwe, hieß es, ihr Mann sei im Bade gestorben. Frau von Brokfelden wurde sie genannt; kein Mensch kannte den Namen. Der Präsident war stolzer, strenger, finsterer, denn je. Er gab keine Gesellschaften mehr und besuchte keine, sondern lebte nur seinem Amte und seiner Tochter; an ihr hing er mit der zärtlichsten, liebevollsten Sorgfalt. Seine Frau sah auch ihn nicht und er sah sie nicht. Aus der Residenz waren seiner Rückkehr sonderbare Gerüchte gefolgt.

Nach einem halben Jahre gebar seine Tochter, die Wittwe, ein Mädchen. Bald darauf starb seine Frau. Es mußten schwere Schläge sein, die sie getroffen und ihren Tod so früh herbeigeführt hatten. Dieser änderte nichts, weder an der Stimmung, noch an der Lebensweise des Präsidenten. Seine Tochter mußte dann aber bald seine Liebe und Zärtlichkeit für sie mit ihrem Kinde theilen und sie that es gern. Man konnte kein schöneres Kind sehen, als die Enkelin des Präsidenten, auch kein liebenswürdigeres. Und so wuchs sie herauf, so blühte sie auf zur Jungfrau. Sie hatte sich aus sich selbst so entwickelt. Ihre Mutter kränkelte, fast von der Zeit der Geburt des Kindes an. Dem Präsidenten fehlte es an Zeit, auch wohl an Zeug und Lust, sich unmittelbar der Ausbildung des Kindes anzunehmen. Er gab ihr indeß tüchtige Lehrer und Lehrerinnen, keine Erzieherin: diese hätte er in sein Haus nehmen, oder er hätte das Kind ihr außer dem Hause übergeben müssen. Für das Eine war ihm sein Familienleben zu heilig geworden, als daß er eine Fremde darin hätte aufnehmen können; für das Andere war die Liebe der Mutter wie des Großvaters zu dem Kinde eine zu heilige. Für Beides wirkte auch wohl ein Familiengeheimniß mit.

Fast nur sich selbst überlassen, wuchs das Kind auf, in den hohen, einsamen, stillen Räumen der alten Propstei, in dem weiten Garten, der auf der einen, in dem großen Walde, der auf der andern Seite das Gebäude umgab. In die Stadt kam sie selten. Aber in dem Walde brachte sie Tage zu, manchmal wie eine in wunderbarer Pracht blühende Blume unter den hohen Bäumen träumend, manchmal wie das schlanke, zart und fein gegliederte Reh auf dem Moose, zwischen dem Gebüsche umherspringend. So war sie in der Wildniß groß geworden, aber nicht wild; das sah man dem großen blauen, seelenvoll träumenden Auge, das sah man dem feinen Gesichte voll Liebe und Milde, das sah man der ganzen weichen und edlen Erscheinung an. Sie zählte siebenzehn Jahre, als der Tod ihre Mutter von langen und schweren Leiden erlöste. Als der Präsident das Ende seiner Tochter herannahen sah, hatte er den Fürsten um seinen Abschied gebeten; zugleich um die Erlaubniß, die ihm gesetzlich zustehende Pension im Auslande verzehren zu dürfen. Beides war ihm bewilligt worden. Als der Tod eingetreten war, sagte er zu seiner Enkelin: „Halte Dich bereit, Agathe; am Morgen nach der Beerdigung reisen wir ab.“

Die Beerdigung sollte am zweiten Tage nach dem Tode stattfinden. Agathe hatte in der kurzen Zeit sich auf so Vieles bereit zu halten, bereit zu machen. Auch in dem großen Walde war sie während der beiden Tage gewesen, allein wie immer. Am Tage der Beerdigung kam sie spät daraus zurück, erst nach fünf Uhr Abends; um sechs Uhr sollte der Leichenzug beginnen. Sie kam mit heißen Thränen zurück; sie hatte wohl auch noch von Anderem Abschied genommen, als von den Bäumen, dem Walde, den Büschen, und es war wohl ein Abschied für das Leben gewesen. Aber als sie die Propstei betrat, trocknete sie die Thränen. Sie hatte sich zu einem festen Entschlusse erhoben, und ein Entschluß kann aufkeimen und auftauchen unter dem Weinen und Schluchzen des Herzens; wenn indeß das Herz zu seiner Fassung sich erhebt, dann hat es sich auch über seinen Schmerz erhoben.

Sie ging in das Gemach, in dem die Leiche ihrer Mutter stand. Es war eins der Prunkgemächer der Propstei; seine Wände waren schwarz verhangen. In seiner Mitte stand der einfache, schwarze Sarg von brennenden Wachskerzen umgeben, derselbe war geöffnet und der Deckel zur Seite gelegt. Die Leiche lag auf weiße seidene Kissen und auf frische Blumen gebettet. Das

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 633. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_633.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)