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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

hob er das Gewehr, bald senkte er es wieder, indem er es von allen Seiten sorgfältig untersuchte, den Hebel auf- und niederdrückte, hier keine Schraube, dort einen Stift berührte, worauf er mit einem beifälligen Nicken dem Arbeiter die Waffe wiedergab, mit der sich dieser, ehrfurchtsvoll grüßend, entfernte, während der alte Herr noch einen Blick auf seine Blumen warf und sich dann, an mir vorübergehend, in sein Wohngebäude zurückzog.

Unwillkürlich hatte dieser an sich unbedeutende Vorgang meine Neugierde noch gesteigert, so daß ich den nächsten Mann, der zufällig vorüberging, ansprach und nach dem Namen des alten Herrn fragte.

„Sie müssen wohl ein Fremder sein,“ erwiderte derselbe, „sonst würden Sie wissen, daß in dem Hause dort der Geheimrath von Dreysse wohnt.“

„Wie?“ rief ich überrascht. „Der alte Herr der Erfind…“

„Der berühmte Erfinder des Zündnadelgewehrs,“ ergänzte mein gefälliger Cicerone, der sich mir bald als einen ebenso gebildeten, wie gut unterrichteten Beamten zu erkennen gab.

„Ich gestehe, daß ich mir den Mann ganz anders vorgestellt habe nach dem Portrait, das unlängst eine illustrirte Wochenschrift gebracht hat, das indeß, wie ich nun sehe, eine Caricatur ist. Wie hätte ich aber auch ahnen sollen, daß dieser an einigen Blumen sich mit so sichtlichem Behagen erfrischende schlichte Mann der Erfinder jenes tödtlichen Geschosses sei, das eine förmliche Revolution in der Welt und namentlich in der Bewaffnung der Armeen hervorzurufen bestimmt ist; daß dieser friedlich freundliche Greis der Besitzer und Lenker einer der bedeutendsten, jedenfalls aber nunmehr der berühmtesten Gewehrfabriken Europas sei?“

„Ich begreife Ihr Erstaunen. Aber hat nicht ein frommer Mönch in seiner stillen Zelle das Pulver erfunden, welches den mittelalterlichen Feudalstaat in die Luft gesprengt? Werfen Sie außerdem nur einen Blick auf die Geschichte der Erfindungen und besonders der deutschen Erfindungen; wer waren die Männer und welchen Standes, deren Geistesblitze so unendlich segenbringend für die Völker wirkten? Wer sind heute die Männer, die an der Spitze unserer berühmten deutschen Industrie-Stätten stehen, und was waren sie einst? Sind sie nicht alle aus dem Volke im reinsten Sinne des Wortes hervorgegangen? Dreysse ist der Sohn eines Bürgers und Schlossermeisters; Dreysse war Beides selbst; heut’ ist der Name Dreysse jedem Kinde in unserm Vaterlande bekannt, heute wird der Name Dreysse auf der östlichen wie auf der westlichen Hemisphäre genannt; der Mann selbst ist trotz Orden und Adel, womit er von seinem Könige geehrt worden, trotz seines, beiläufig bemerkt, vielfach überschätzten Reichthums der liebenswürdige, bescheidene und schlichte Bürger Sömmerda’s geblieben.“

Mein Begleiter, der sich mir immer mehr als Gesinnungsgenossen zu erkennen gab, wandte sich zum Gehen und forderte mich in freundlicher Weise zu einem Spaziergang vor das Thor hinaus auf, wo wir in einen öffentlichen, wenn ich nicht irre, der Sömmerdaer Schützencompagnie gehörenden Garten einkehrten. Wir fanden daselbst mehrere Bürger und zahlreiche Beamte, Meister und Arbeiter der Gewehrfabrik im eifrigen Gespräch, das sich natürlich um die letzten Zeitereignisse drehte und bald auch auf die berühmte Erfindung ihres Landsmanns Dreysse zurückkam.

„Ja,“ sagte ein grauköpfiger Bürger. „Wer hätte das denken sollen, daß unser Nikolaus noch einmal in die Weltgeschichte kommen würde! Ich kenne den Dreysse noch von der Schule her, wo wir manchen tollen Streich zusammen ausgeführt haben. Seitdem waren wir Freunde und sind es auch geblieben, obgleich er jetzt ein reicher Mann geworden und sogar geadelt ist.“

„Da können Sie mir gewiß über sein Leben und seine Erfindung Auskunft geben. Sie würden mir damit einen großen Gefallen erweisen.“

„Das will ich gern thun, wenn Ihnen damit gedient ist. Freilich ist es schon lange her, aber ich erinnere mich noch deutlich an die alte Zeit, wo noch in Sömmerda die Franzosen hausten. Damals wohnte der Vater Dreysse’s gerade gegenüber von der alten Mohren-Apotheke und betrieb die Schlosserei; das Haus können Sie heut’ noch auf der langen Gasse sehen, es gehört schon seit vielen Jahren dem Bruder des Geheimraths und seinem treuen Helfershelfer, dem Oberrevisor Rudolph Dreysse. Nebenbei hatte der Vater Dreysse eine kleine Feldwirthschaft und besaß, wie so mancher Bürger in jenen Tagen, die Gerechtigkeit Bier zu brauen und auszuschenken, wenn die Reihe an ihn kam. Der alte Johann Christian Dreysse war ein Ehrenmann von damals mehr als gewöhnlicher Bildung und freierer Anschauung, der sich redlich nährte, in allgemeiner Achtung stand und durch sein gediegenes Urtheil seinen Mitbürgern wie Gästen imponirte. Wenn drüben über der französischen Grenze Dinge vorgingen, über welche die guten Sömmerdaer Philister die Köpfe schüttelten und die Hände zusammenschlugen, so gingen sie zum alten Dreysse und der setzte ihnen auseinander, daß die französische Revolution trotz der unendlichen Gräuel und Blutscenen viel Gutes zur Folge haben müsse, nicht für Frankreich allein, sondern auch für Deutschland, und daß ihre Kinder gewiß noch die aus jenem, leider auch vielem unnütz vergossenen Blute entspringenden Früchte ernten würden.

Unser Nikolaus oder, wie er gewöhnlich genannt wurde, Niklas ging fleißig zur Schule, zeigte auch einen anstelligen Kopf, aber kein Mensch ahnte in ihm ein absonderliches Genie. Als er das vierzehnte Lebensjahr überschritten hatte und confirmirt worden war, es wird im Jahr 1802 gewesen sein, da Dreysse 1787 am 20. November geboren, kam er in die Werkstatt seines Alten als Lehrling, mit der Zeit wurde er freigesprochen und Geselle. Damals war es noch Brauch und Sitte, daß man mit dem Ränzel auf dem Buckel auf die Wanderschaft zog und einige Jahre in der Fremde arbeitete, ehe man sein Meisterstück machte und sich als Bürger niederließ. Mutter Dreysse, eine kreuzbrave Frau, ließ den Jungen nur ungern ziehen und vergoß beim Abschied manche Thräne, aber der Alte hielt streng auf das Herkommen und den Handwerksbrauch. Auch der Nikolaus war damit zufrieden und entschloß sich zunächst zu seinem Vetter Beck nach Altenburg zu ziehen, der daselbst herzoglicher Hofwagenfabrikant war. Da ich gerade meine Verwandten von mütterlicher Seite im Altenburgischen besuchen wollte, so begleitete ich ihn noch eine tüchtige Strecke. Es war das Unglücksjahr 1806 und wir geriethen mitten in das Kriegsgetümmel, so daß ich am liebsten wieder umgekehrt wäre, allein ich wollte meinen Cameraden nicht im Stich lassen, und so wanderten wir in Gottes Namen weiter, bis wir in die Gegend von Jena kamen, wo kurz vorher die furchtbare Schlacht geschlagen worden war. Am Wege fanden wir noch die Spuren des Kampfes, unbegrabene Leichen, crepirte Pferde, zerbrochene Wagen, zerschossene Lafetten und weggeworfene Waffen aller Art. Es war ein entsetzlicher Anblick. Während ich aber mit Schaudern vorübereilte, sah ich, wie mein Freund zurückblieb und bald ein preußisches, bald ein französisches Gewehr aufnahm und von allen Seiten betrachtete. Sorgfältig untersuchte er die alten Feuerschlösser, indem er mich auf den Unterschied der Constructionen aufmerksam machte, wobei er über die elende Beschaffenheit der alten preußischen Schießprügel tüchtig schimpfte und hauptsächlich ihnen die Schuld an dem unglücklichen Ausgang des Krieges gab. Wie mir Dreysse selbst später einmal sagte, hat ihn seitdem der Gedanke nicht verlassen, eine verbesserte Schießwaffe herzustellen. Das ging aber nicht so schnell, wie er dachte.

Eine geraume Zeit arbeitete er als Schlossergeselle in Altenburg bei seinen Verwandten. Nach und nach regte sich in ihm immer mehr der Gedanke, nach Paris zu gehen; mißmuthig darüber, daß ihm sein Vetter davon abrieth, ihm auch die dafür nöthigen Mittel verweigerte, verließ er denselben und wanderte nach Dresden, wo er bessern Verdienst hatte und dadurch die Mittel fand, etwas für seine immerhin nicht ausreichende Bildung zu thun. Während andere Gesellen den Tanzboden besuchten und ihr Geld verjubelten, schaffte sich Dreysse dafür allerlei nützliche Bücher und gute Schriften an, aus denen er was Ordentliches lernte. Nach nur halbjährigem Aufenthalte in Dresden folgte er dem Rufe seines Verwandten und kehrte nach Altenburg zurück. Endlich setzte er es doch durch, daß ihn Beck, nachdem der Vater Dreysse seine Erlaubniß ertheilt hatte, nach Paris ziehen ließ, wo er gleichsam die Universität seines Handwerks finden und aus einem simplen Schlossergesellen ein geschickter Mechanicus werden sollte. Mit dreißig Thalern in der Tasche, die zur Hälfte aus erspartem Verdienste und zur andern Hälfte aus einer Beihülfe des Vetters bestanden, wanderte unser Niklas im Jahr 1809 an den Rhein und, ohne sich lange dort aufzuhalten, nach Paris.

Jetzt begann für ihn eine der trübsten und drangsalvollsten Perioden; er hat, wie er selbst nicht leugnet, zu Zeiten dort bitterste Noth, ja Hunger gelitten. Doch das Alles konnte seinen Muth nicht beugen, nach den Tagen der Trübsal kamen bessere Zeiten, der geschickte Mensch fand endlich in einer der bedeutendsten Wagenfabriken

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_630.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)