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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Inwendig räsonniren darf jeder Mensch,“ sagte Schulze. „Und jede Woche hunderttausend Thaler extraordinarie, für solche –“

Aber er brach von selbst ab, denn er war mit seinem Eintragen fertig. Der Landrentmeister nahm das Schreiben vom Hofe wieder an sich, legte es auf seinen Arbeitstisch, zog aus der Brusttasche seines grauen Ueberrocks zwei Schlüssel hervor und ging zu dem Cassengewölbe, um es aufzuschließen und die hunderttausend Thaler herauszunehmen.

Das Gewölbe befand sich unmittelbar an dem Cassenzimmer, zu welchem eine Flügelthür von schwerem Eisen hineinführte; zwei ungewöhnlich starke eiserne Stäbe, im Kreuz vor sie gelegt und festgeschlossen, sicherten den Verschluß der Thür. Der Landrentmeister öffnete mit dem einen seiner beiden Schlüssel den Verschluß der Kreuzstäbe, mit dem andern die Thür und trat dann in das Gewölbe, zu dem drei steinerne Stufen hinunterführten. Das Cassenzimmer lag zu ebener Erde. Das Gewölbe war daher kellerartig einige Fuß tief in die Erde eingegraben. Es war rund und geräumig und erhielt sein Licht durch drei lange, schmale Fenster, die mit starken eisernen Kreuzgittern versehen waren. Die Fenster zeigten zugleich eine Dicke der Mauern von mindestens fünf Fuß. An den Mauern rund umher befanden sich verschlossene eiserne Schränke.

Der Landrentmeister ging zu einem der Schränke, zu dem, der gerade der Thür gegenüber war, und schloß ihn auf mit einem dritten Schlüssel, den er auch aus seiner Brusttasche nahm. Der Schrank hatte Reihen von offenen Fächern. In jedem sah man Geldrollen, Pakete abgezählter Banknoten. Der Staat konnte, trotz jenes unterdrückten Ausrufs des Controleurs, noch lange nicht zu Grunde gehen. Der Landrentmeister wandte Blick und Hand nach einem mittleren Fache. Es lagen neben dem Pakete mit den Banknoten kleinere Rollen darin, also Goldrollen. Indem seine Hand sich nach jenen ausstreckte, hatte sein Blick Alles überflogen. Er stutzte und eine leichte Blässe glitt über sein Gesicht. Er zog die Hand zurück, heftete aber den Blick desto fester auf die Rollen, in eine Ecke, in der nichts lag. Wie er vorher Alles nur rasch überflogen hatte, so zählte er jetzt die Goldrollen. Aber er wurde unruhig und blässer. Er sah wieder in die leere Ecke, brachte die Hand wieder in das Fach und faßte Rolle für Rolle an und zählte so noch einmal ab. Er wurde leichenblaß und sah sich nach einem Stuhl um, der in dem Gewölbe stand; er schwankte zu ihm und fiel auf ihn nieder; der Kopf sank ihm auf die Brust; von der Stirn tröpfelte ihm der kalte Schweiß.

In diesem Augenblicke war er nicht der richtige Cassenbeamte mit der unerschütterlichen Ruhe und Geistesgegenwart. Aber er wurde es wieder; es dauerte freilich lange. Er zog seine schildpattene Tabaksdose hervor und nahm eine Prise. Dann konnte er aufstehen. Noch einmal warf er einen Blick in den Schrank, in das Fach, entdeckte aber nichts Tröstliches. Er hatte seinen Entschluß gefaßt und kehrte in das Cassenzimmer zurück. Sein Schritt war noch schwankend, sein Gesicht noch kreideweiß; die drei steinernen Stufen konnte er nur mit Mühe ersteigen. In dem Cassenzimmer mußte er sich in seinen Sessel werfen.

„Schmidt!“ riet er dann.

„Herr Landrentmeister befehlen?“ fragte der zweite Cassendiener.

„Ein Glas Wasser!“

Der Diener ging, es zu holen. Aber der Landrentmeister hatte mit einer so eigenen, gebrochenen, tonlosen Stimme gesprochen. Die beiden Schreiber und der erste Diener wagten nicht von ihrer Arbeit nach ihm aufzusehen. Der Controleur mußte es. Er sah das bleiche Gesicht, die nasse Stirn, die erloschenen Augen und sprang zu ihm hin.

„Herr des Himmels, Herr Landrentmeister, was ist Ihnen?“

„Ich bekam einen Schwindel, lieber Schulze.“

„Einen Schwindel? Das ist Ihnen ja in Ihrem Leben noch nicht passirt.“

„Nein, das ist mir in meinem Leben noch nicht passirt, und es hätte gar nicht passiren sollen.“

„Nun, nun, Herr Landrentmeister, es wird vorübergehen.“

„Vorübergehen? Nein, nein –“

„Sie nehmen es zu tragisch. Was ist denn ein Schwindel?“

„Mein Tod, mein Ruin!“

„Ein einfacher Schwindel?“

Die Frage und der plötzlich stutzende und forschende Blick des Controleurs dabei gaben dem Landrentmeister seine Geistesgegenwart und seine Stellung zurück.

„Ah, es ist vorüber, mir wird wieder wohl,“ sagte er.

Er nahm das Glas Wasser, das ihm der Diener brachte, und dann eine zweite Prise.

„Nun, ich wußte es,“ meinte der Controleur und kehrte an sein Pult zurück.

Der Landrentmeister aber nahm seine Bücher vor, schlug und rechnete lange darin nach und hatte dabei ganz das Aussehen eines Mannes, der nichts als ein Rechenknecht ist; er ging darauf in das Cassengewölbe zurück, trat noch einmal an den geöffneten Schrank, zählte noch einmal die Goldrollen, faltete die Hände und sprach leise vor sich hin: „Gerechter Gott, es bleibt dabei!“ Dann raffte er sich wieder auf, nahm aus dem Schranke einen Haufen Banknotenpakete hervor und zählte mit sicherer Hand zehn Pakete ab; jedes derselben enthielt nach der Etikette darauf zehntausend Thaler. Er verschloß den Schrank wieder, trug die hunderttausend Thaler in das Cassenzimmer, verschloß das Gewölbe, ließ in seiner Gegenwart die zehn kleinen Pakete zu einem großen durch den Cassendiener Schmidt zusammenlegen, dieses mit einem Umschlage versehen, zuschnüren und versiegeln, machte selbst die Aufschrift darauf und sagte dann zu dem Controleur:

„Lieber Schulze, Sie begleiten den Schmidt wohl mit dem Gelde zur Post?“

Schulze und Schmidt gingen, das Geld zur Post zu tragen. Der Landrentmeister nahm ruhig, als wenn nichts vorgefallen sei, seine Arbeit wieder auf und setzte diese, nach der Rückkehr der beiden Beamten, ununterbrochen fort, bis die große Wanduhr in dem Zimmer eins schlug. Die Bureaustunden für den Vormittag waren damit geschlossen; sämmtliche Beamte verließen das Cassenzimmer, um ihr Mittagsmahl einzunehmen. Um drei Uhr Nachmittags wurde das Bureau wieder geöffnet.

Der Landrentmeister ging nicht zu Tisch, sondern nahm eine Droschke und fuhr zu dem Polizeirath Schwarz. Derselbe war ein richtiger Polizeimann, wie der Landrentmeister ein richtiger Cassenbeamter war. Er hatte daher eine feine Nase, auf der er eine goldene Brille trug, und führte eine kostbare goldene Tabatière, die er für geleistete Dienste von einem fremden Potentaten zum Geschenk erhalten hatte. Seine große Seelenruhe und seine hellen Augen gaben der Ruhe und dem Blick des Landrentmeisters nichts nach; dagegen war er ein rascher Mann in seinen Bewegungen. Die Beiden waren alte Freunde.

„Schwarz, Ihr müßt mir helfen,“ begann der Landrentmeister.

„Teufel, Freund Aders, Ihr seid bestohlen!“ frug Schwarz.

„Ihr wißt es schon?“

„Ich sehe es Euch an.“

„Hätte ich so meine Contenance verloren?“

„Ja. Es muß schlimm sein. Aber erzählt.“

„Mir sind sechzigtausend Thaler gestohlen.“

„Hm, ha, wann?“ rief der Polizeirath.

„In der vorigen Nacht.“

„Und wo?“

„Aus meiner Casse.“

„Und der Dieb?“

„Den sollt Ihr mir suchen helfen.“

„Hm, Suchen ist leicht – auf das Finden kommt es an. Die Art des Diebstahls?“

„Ist für mich unergründlich.“

„Die Spuren?“

„Ich habe keine entdeckt.“

„Aber so erzählt.“

Der Landrentmeister erzählte.

„Hm, hm! Auf wen habt Ihr Verdacht?“

„Auf Niemanden.“

„Eure Cassenbeamten –“

„Sind die ehrlichsten Menschen von der Welt, alte, treue, bewährte Beamte.“

„Treu ist kein Mensch. Aber gehen wir zu Eurer Casse. Von dem Orte eines Verbrechens aus ziehen sich die Fäden zur Entdeckung und Verfolgung des Verbrechers, oft von ihm selbst, oft von der Vorsehung gesponnen und gewoben, manchmal neben einander laufend, daß man bald zum Ziele gelangt, manchmal aber auch kreisförmig sich ausbreitend und zerstreuend; man kommt aber auch dann zum Ziele.“

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verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 618. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_618.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)