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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

No. 40.

1866.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


In der Propstei.
Von. J. D. H. Temme.
1. Der richtige Cassenbeamte.

Zu einem richtigen Cassenbeamten gehört ein graues, faltiges Gesicht und ein grauer, weiter Ueberrock, in welchem weite, bequeme Taschen sein müssen, auch vorn zu beiden Seiten, sodaß man jeden Augenblick hineinlangen kann, besonders nach Taschentuch und Schnupftabaksdose. Denn zu dem richtigen Cassenbeamten gehört ferner eine Dose, und wie das Schnupftuch von bunter Seide sein muß, so darf die Dose weder von Gold, noch von Silber, sondern sie muß von feinem Schildpatt sein und schon etwas dunkelbraun, damit man ihr das Alter ansieht. Und warum das Alles? Der Cassenbeamte ist eigentlich der wichtigste Beamte im Staate; ohne Geld und ohne Cassen kann keine Regierung, also auch kein Staat bestehen. Der Cassenbeamte muß mithin auch besondere Garantien für die tüchtige Verwaltung seines Amtes darbieten, und namentlich ein Mann von conservativer Gesinnung und solidem Charakter sein. Er darf daher zum Beispiel keine goldene Dose führen und auch mit der bescheidneren schildpattenen nicht zu oft wechseln; die goldene würde Luxus anzeigen und zugleich Ueberhebung, denn der Präsident führt sie; das Wechseln aber zeigte einen gefährlichen Hang zum Neuen und zum Neuern. Der richtige Cassenbeamte muß im Uebrigen auch noch scharfe Augen, ein gemessenes Wesen und eine unerschütterliche Ruhe besitzen; Millionen gehen durch seine Hände und an einem einzigen Pfennig zu viel oder zu wenig hängt seine Ehre.

Ein solcher richtiger Cassenbeamter war der Landrentmeister Aders. Doch er war es nicht ganz; einmal verlor er seine Ruhe. Er war, wie gewöhnlich, des Morgens um neun Uhr in das Regierungsgebäude und in das Cassenzimmer getreten. In dem Zimmer waren seine Untergebenen schon an ihrer Arbeit; der Cassencontroleur, ein paar Cassenschreiber, zwei Cassendiener. Controleur und Schreiber lagen emsig dem stillen Geschäfte des Rechnens und Schreibens ob; der eine Diener heftete Acten, der andere falzte Papier zu Geldrollen.

Der Landrentmeister Aders war mit der ruhigen Würde des Chefs eingetreten; er wurde von den Untergebenen ehrfurchtsvoll gegrüßt. Dann sah er nach den an die Casse eingegangenen Schreiben, die bis zu seiner Ankunft uneröffnet da lagen. Ein Wink an den zweiten Diener befahl diesem, sie zu öffnen. Darauf setzte er sich in seinen großen Arbeitssessel. Der Diener trat mit einer Scheere an seine Seite, schnitt die Couverts der Briefe auf, entfaltete sie und legte sie auf den Schreibtisch. Nachdem der Landrentmeister sie alle gelesen hatte, erhob er sich wieder. Mit einem Briefe in der Hand begab er sich zu dem Arbeitspulte des Cassencontroleurs, eines kleinen verwachsenen Männchens, welches stehend arbeiten mußte und es mit den großen Cassenbüchern zu thun hatte.

„Lieber Schulze,“ sagte der Landrentmeister zu dem Controleur, „tragen Sie doch die Verausgabung von hunderttausend Thalern ein.“

Es waren die ersten Worte, die seit dem Eintreten des Landrentmeisters gesprochen waren, und er sprach sie mit seiner ganzen unerschütterlichen Ruhe.

Der Controleur hörte sie ruhig an. Hunderttausend Thaler auf einem Bret auszuzahlen, war bei der großen Casse eben nichts Außergewöhnliches; aber der kleine, buckelige Mann mußte einen Blick in die Schrift werfen, auf deren Grund die Zahlung geschehen sollte. Vermöge seines Buckels war er ein lebhafter Mann, und er durfte es sein, er selbst hatte ja keinen Pfennig einzunehmen und auszugeben, sondern nur die Einnahmen und Zahlungen des Landrentmeisters in die Contobücher einzutragen, und wenn tausend Thaler oder noch mehr zu viel ausgezahlt waren, so ging ihn das nichts an, der Landrentmeister hatte den Schaden zu tragen und mußte ihn tragen und durfte das Geld nicht zurücknehmen, wenn der ehrliche Empfänger es ihm auch zurückbrachte; denn die Ehre des richtigen Cassenbeamten litt nicht, einzugestehen, daß er sich geirrt haben könne. Als der kleine Mann einen Blick in das Schreiben geworfen hatte, fuhr er auf.

„Herr Landrentmeister –“

Der Landrentmeister sah ihn ruhig an, nicht einmal verwundert.

„Was giebt es, lieber Schulze?“

„Hunderttausend Thaler!“

„Wie Sie sehen.“

„Aber schon wieder? Erst vor acht Tagen!“

„Darf ich bitten einzutragen?“

„Und extraordinarie, Herr Landrentmeister! Neben allem Ordinarium! Wo soll das hinaus? Da muß der Staat –“

Zu Grunde gehen! wollte der lebhafte kleine Mann ausrufen. Der Landrentmeister kam ihm mit einem verweisenden und auf die Schreiber und Diener hinübergleitenden Blicke zuvor. Der Kleine trug in seine großen Bücher ein. Aber er mußte in seinem Eifer für sich nach- oder vorsprechen, was er schrieb.

„Einmalhunderttausend Thaler, nach Hofe, für Serenissimus.“

Dann sprach er in seinem Zorn weiter, allein das schrieb er nicht: „Für Jagden, für Spiel, für Champagner, für junge und alte –“

„Schulze, räsonniren Sie nicht,“ unterbrach ihn der Landrentmeister.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 617. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_617.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)