Seite:Die Gartenlaube (1866) 607.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

Böhmen in ihre alte Garnison zurückkehrten. Das tapfere Regiment, mit dem Stab an der Spitze, hatte schon von Erfurt bis Langensalza einen festlichen Triumphzug gehalten.

Weißgekleidete Jungfrauen, die mit den schwarz costümirten Bürgerssöhnen, welche den Kriegern voranritten, die preußischen Landesfarben lebendig repräsentirten, waren nun auch in Langensalza, trotz des rauhen Windes, den Truppen bis zum Kirchhofe entgegengegangen, wo am 25. Juni der preußische General von Flies unter einer alten Linde gestanden hatte, um die Schlacht zu leiten, und wo hernachmals die hannoverschen Trophäen tagelang aufgestapelt lagen. Rings aber wogte und jauchzte das Volk, und begleitete den stattlichen Zug durch die Ehrenpforten, die sich über die Straße wölbten, und durch die festlich decorirten Häuserreihen, welche im reichen Blumen- und Fahnenschmucke prangten. Fast jeder Ulane trug einen Strauß, den ihm freundliche Hände zugeworfen, und die Lanzen, deren Eisenspitzen vielleicht zum Theil noch mit Blut gefärbt, waren mit Kränzen behangen, zwischen denen die schwarzweißen Fähnchen lustig flatterten. Abends waren die Häuser bis in das entlegenste Gäßchen hinein festlich erleuchtet, im Schützenhause aber, wo der König von Hannover sein Quartier aufgeschlagen hatte, bis die Capitulation ihn von dannen trieb, während seine tapfere siegreiche Armee mit dem Stocke in der Hand heimkehren mußte, wurden die Ulanen vor der Stadt bewirthet, und erzählten von ihren Erlebnissen in Ungarn und Böhmen und hörten die Berichte aus der Schlacht bei Langensalza. Wer dachte wohl daran, als die Gläser erklangen und die Musikchöre aufspielten, daß einige ihrer Cameraden eben erst in’s Choleraspital getragen worden waren und daß in den Lazarethen der Stadt noch viele Verwundete seufzten? Und doch hatten sich Einzelne an ihren Krücken in’s Gedränge gewagt, oder blickten mit bleichem Antlitz durch die Blumensträuße, die man auch in ihre Fenster gestellt hatte.

Ein greiser Bürger saß mittlerweile daheim, das schmerzdurchfurchte Antlitz in die Hand gestützt. Jeder Böllerschuß und Freudenruf, der in sein Stübchen drang, zuckte ihm durch’s Herz. Vier seiner Söhne sind zu den Waffen berufen worden und haben da und dort wacker gekämpft. Der Jüngste stand bei den Einundsiebenzigern, als die Schlacht bei Langensalza entbrannte. Als der Vater hörte, daß sein Sohn beim Siechenhofe postirt sei und in der drückenden Hitze fast verschmachte, machte er sich, trotz seiner achtzig Jahre und trotz der pfeifenden Kugeln, auf den Weg, um seinen Liebling mit Brod und Wein zu erquicken. Allein er fand ihn nicht. Wie er auch spähte und forschte – Alles vergebens. Mit schwerem Herzen kehrte er heim, während der Würgengel draußen immer neue Opfer verschlang. Endlich hatte die Schlacht ausgetobt.

Der Abend dämmerte bereits. Niemand hatte, als die Preußen retirirten, den Vermißten gesehen. Da läßt es dem Vater keine Ruhe. Er macht sich abermals auf und schreitet zitternd durch das Leichenfeld. Hier ächzt ein Verwundeter, dort starrt ein Todter ihn an. Nicht weit vom Abdeckerhäuschen aber liegen Einundsiebenziger. Von einer entsetzlichen Ahnung gefoltert, beugt er sich zu jedem Leichnam nieder und fragt jeden Verwundeten und ruft den Namen seines Sohnes in die stille Nacht hinaus. Endlich hört man einen gellenden Schrei: „Rudolph!“ Ja, er ist’s! Der Vater hat den Sohn gefunden, aber die geliebten Züge sind bereits erstarrt. Er ist auf dem Bett der Ehre gefallen, und der Vater drückt ihm die Augen zu.

Diese Geschichte erzählten wir im Schützenhause einigen Ulanen, welche den Gefallenen gekannt hatten. Sie sprachen den Wunsch aus, sein Grab zu besuchen. Er war auf dem städtischen Friedhofe beerdigt worden. Man ging dahin. Die lustigen Töne der Musik, die im Garten des Schützenhauses aufspielte, hallten bis in die Gräberreihen. Unwillkürlich entblößten die Ulanen ihr Haupt, als sie ein weites Feld voll frischer Todtenhügel sahen. Ja, hier lagen sie nebeneinander gebettet, die tapferen Preußen und die tapferen Hannoveraner, die im heißen Kampfe einen rühmlichen Soldatentod gefunden, oder nach längeren und kürzeren Leiden in den Lazarethen geendet hatten. Und fürwahr der Tod hatte eine reiche Ernte gehalten, reicher, als verhältnißmäßig in irgend einer andern Schlacht des kurzen Krieges! Denn es sind in Langensalza und in der nächsten Umgegend als Opfer des Kampfes über fünfhundert Mann beerdigt worden (worunter gegen vierzig Officiere), und zwar dreihundert und sechszig Hannoveraner und einhundert und fünfzig bis einhundert und sechszig Preußen. Davon, blieben dreihundert und fünfzig auf dem Platze und einhundert und sechszig bis einhundert und siebenzig starben in Folge ihrer Verwundungen.

„Ich werde den schaurigen Anblick nie vergessen,“ sagte einer unserer Begleiter, „als achtundsiebenzig junge, kräftige Gestalten am zweiten Abend nach der Schlacht in jenem gemeinsamen Grabe bestattet wurden. An Särge war nicht zu denken. Der Tod aber schien sein Zerstörungswerk rasch vollenden zu wollen. Denn viele Leichname waren schon in der Zersetzung begriffen, die Gesichtszüge verschwollen und die Glieder aufgetrieben, sodaß die Uniformen platzten. Ueber die klaffenden Wunden wurde Kalk gestreut, als Alle, Freunde und Feinde, friedlich nebeneinander lagen. Dies war ihr Todtenhemd. Einer der Gebliebenen war derart verstümmelt, daß die Glieder auseinander fielen, als man ihn zu Grabe trug. Wer aber kennt und nennt die Namen Derer, die hier ruhen? Nur in den officiellen Todtenlisten sind sie aufgeführt. Die jedoch ihren Wunden erlagen, sind in Särgen feierlich hinausgetragen und mit allen kirchlichen und militärischen Ehren bestattet worden.“

„Auch die Juden?“ fragte ich, und zwar absichtlich, weil ich wußte, daß man an ihrem Grabe einen Geistlichen vergebens erwartet hatte.

„Nun,“ lautete die Antwort, „auch die Juden sind von ihren Kriegscameraden, mit denen sie im Feuer gestanden, auf dem letzten Wege begleitet worden, auch über ihren Gräbern ertönte die dreifache Salve, und die kurze Grabrede, die der Feldwebel Kienast gehalten, hat wohl einen noch tieferen Eindruck gemacht, als mancher salbungsvolle Leichensermon. Sie werden ja wohl ebenso selig werden, als wenn sie der Garnisonprediger eingesegnet hätte.“

Darüber waren wir einverstanden, ob wir auch meinten, daß es weder den Feld-, noch den Stadtprediger entehrt haben würde, wenn sie einem israelitischen Glaubensgenossen, der als braver Krieger gekämpft und gestorben, die letzte Ehre erwiesen hätten.

Während wir noch so sprachen, hatte einer der Ulanen den halbwelken Kranz genommen, mit dem er beim Siegeseinzug geschmückt worden war, und auf das Grab des hannoverschen Juden gelegt. Wir drückten dem Braven schweigend die Hand und gingen von dannen.

Aus dem Schützenhause lockten die Töne eines lustigen Walzers. „Wollen wir?“ fragten die Ulanen sich untereinander. Aber Einer nach dem Andern schüttelte den Kopf. Wohl mag die Freude ihre Rechte haben, allein solche Rechte hat auch der Ernst des Lebens. Und dieser Ernst war auf dem Todtenhofe in erschütternder Weise an die jungen Krieger herangetreten. Sie baten uns, mit ihnen das Schlachtfeld zu besehen. Gern geleiteten wir sie von einem Platze zum andern, wo der Kampf am heißesten gewüthet hatte.

An der Straße dahin saßen drei Landwehrmänner, die, wie viele ihrer Cameraden, in Erfurt entlassen worden waren. Sie schienen todmüde, denn sie hatten den Weg zu Fuß zurückgelegt. Wir ließen uns mit ihnen in ein Gespräch ein. Wie waren sie seelenfroh, nun bald die Heimath wiederzusehen! Wie freudig erzählten sie von den Ehren, womit sie überall empfangen worden waren! „Und doch wären mir ein paar Groschen lieber gewesen, als alle Blumen, die sie uns gestreut, als alle Ehrenpforten, die sie gebaut!“ Es war ein armer Eichsfelder, der sich also expectorirte. Er hatte, wie er sagte, keinen Kreuzer in der Tasche, um unterwegs zehren zu können, und wenn er heimkomme, wer wisse, ob er eine warme Suppe oder auch nur ein Stückchen Brod finde, denn seine Frau und seine Kinder seien bisher von der Gemeinde ernährt worden. Wie er sie forthin selbst ernähren solle, indem ihn der Krieg aus seiner Arbeitsstellung gerissen habe und der Winter vor der Thür stehe, möge Gott wissen.

Wir griffen in die Taschen und gaben, was wir entbehren konnten. Wie Viele mögen mit ähnlichen Sorgen zurückkehren! Und wie mag es vollends denen zu Muthe sein, die weder Frau noch Kinder finden, wenn sie die heimathliche Thür öffnen, weil die Cholera das ganze Haus entvölkert hat! Muß da nicht der Siegesjubel zur Todtenklage werden?

„Wahrlich, da ist denen wohler, die unter diesem frischen Rasen schlummern!“ sagte ich unwillkürlich, als wir unter solchen Gesprächen an sechs Gräbern vorübergingen, die unfern der Liebfrauenkirche einige vierzig Gefallene aufgenommen hatten. Sie waren ohne alle Ceremonie in die flachen Gruben gebettet worden.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1866). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1866, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1866)_607.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)