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verschiedene: Die Gartenlaube (1866)

„Herr von Dunois nebst Gemahlin und Dienerin, ein hübsches, junges Paar. Sie haben den ganzen vierten Stock gemiethet; zwei Zimmer bewohnt eine ältliche Malerin, Mademoiselle Dufour.“

Ich überlegte, ob ich Herrn von Dunois meinen Besuch als Hausgenosse machen solle oder nicht, unterließ es aber, weil mir der Portier, den ich ein wenig ausfragte, sagte, Herr und Frau Dunois lebten nur für sich.

„Der Winter rückte näher und ich kam auf den Einfall, bevor es noch kälter würde, Freunde im Elsaß zu besuchen, welche mich eingeladen hatten. Ich beschloß, mit dem ersten Zuge zu reisen; als ich auf die Straße trat, bemerkte ich drei Schritte vor mir einen Blousenmann, welcher ebenfalls nach dem Bahnhofe ging, wo er sich in der Halle hinstellte, um die Ankunft des ersten Zuges zu erwarten.

„Schon beim Geschäft?“ rief ich ihn an.

„Ja, Herr, der Arbeiter muß früh aufstehen.“

Ich ging weiter, mich abermals fragend: „Sind Herr Delisle und dieser Mann wirklich nicht identisch?“

Als ich nach zwei Wochen zurückkam, begegnete ich noch an demselben Tage dem Decorationsmaler im Grand Café.

„Denken Sie, Eugen, ich habe es durchgesetzt, das Drama von Delisle ist angenommen.“

„Das freut mich für Sie. Wann wird es in Scene gehen?“

„O, sobald noch nicht, vielleicht in sechs Monaten, vielleicht über’s Jahr.“

„Und der Titel?“

„‚Der Mensch muß zu leben verstehen.‘ Der Inhalt ist etwas unwahrscheinlich, doch nicht unmöglich, das Ganze höchst unterhaltend.“

Ich hatte diesen Titel schon einmal gehört, nur wußte ich nicht wo. Eine mir liebe Arbeit und nasses Wetter fesselten mich mehrere Tage an das Zimmer. Eines Abends hörte ich über mir wieder singen, und jetzt hielt es mich nicht länger, ich nahm meinen Hut und stieg die Treppe hinauf, um mich als Hausgenossen und dankbaren Bewunderer des Sängers vorzustellen. Die Dienerin meldete mich an, ich wurde angenommen und in ein sehr behaglich eingerichtetes Gemach geführt. Am Kamin, dessen Feuer das blasse, schöne Gesicht der Dame beleuchtete, saß Helene; mein Hausgenosse, Herr von Dunois, war der Doppelgänger meines Blousenmannes, auch des Ersteren Sprache war wie die meines Mannes. Bald kam ich mit Herrn von Dunois in ein anziehendes Gespräch; als ich mich verabschieden wollte, ward ich zu längerem Bleiben aufgefordert. Die junge Frau machte Thee für uns Drei und dann musicirten wir. Später kam die Malerin und ergoß sich in bittere Klagen über allerlei Aerger mit Kunsthändlern. Frau von Dunois versuchte lieblich, sie zu trösten, doch Herr von Dunois lachte: „Ah, bah! Wer nimmt auch Alles so schwer wie Sie, Mademoiselle Dufour; der Mensch muß zu leben verstehen.“

„Das ist der Titel eines neuen Dramas, welches wir nächstens im Odeon-Theater sehen werden; es ist von Delisle.“

Herr von Dunois lächelte ein wenig und sagte: „Im Vertrauen, da wir Hausgenossen sind und hoffentlich Freunde werden, das Stück ist von mir. Doch behalten Sie dies vor der Hand noch für sich.“

„Zuverlässig, Herr von Dunois.“

Als wir bekannter wurden, sagte ich einmal zu ihm, daß er einen Doppelgänger habe. Er lachte.

„Nun, jetzt, wo ich Sie genau kenne, will ich es Ihnen gestehen: der Blousenmann steht vor Ihnen.“

„Wie, Blousenmann, Notenschreiber, Corrector, dramatischer Schriftsteller in Einer Person?“

„Ah, bah, der Mensch muß zu leben verstehen. Hören Sie meine Geschichte. Meine Kindheit war die traurigste, soweit die Kindheit eines gesunden Jungen trübselig sein kann. Ich wohnte mit meinen Eltern in einer engen Gasse im sechsten Stockwerk und mußte oft Tage lang zu Hause bleiben, weil ich keine Schuhe hatte. Mein Vater wurde Herr Baron genannt, er las viel, seufzte über seine Armuth und gar oft gingen wir Drei, Vater, Mutter und ich, hungrig zu Bett. Eines Tages kam ein Jugendfreund meines Vaters und bot ihm eine Stelle an. Mein Vater erwiderte: ‚Wie gern würde ich sie annehmen, hieße ich nicht Baron S.‘

‚Leider macht unser Stand so Vieles für uns unmöglich, noblesse oblige,‘ bemerkte meine Mutter.

Der Freund lachte, zuckte die Achseln, ging und kam nie wieder. Als ich vierzehn Jahre alt war, starben meine Eltern an Einem Tage an der Cholera. Ich beweinte sie aufrichtig und dachte nach, wovon und wie ich von jetzt an leben sollte. Meine Kenntnisse waren gering, denn es hatte an Geld gefehlt, um mich in eine Schule schicken zu können. Ich erinnerte mich des Freundes meiner Eltern und suchte ihn auf, ihn um einen Rath zu bitten. Er hörte mich freundlich an, ehe er fragte: ‚Was können und wünschen Sie, Armand?‘

‚Ich kann wenig und wünsche mir Kenntnisse und durch diese meinen Unterhalt zu erwerben. Ich besitze jetzt nichts.‘

‚Gut, Armand, ich will Ihnen Aufnahme in eine gute Schule verschaffen, und sobald Sie sich Geld zu erwerben vermögen, sollen Sie mir meine Auslagen wieder erstatten. Doch noch Eins: Sie sind Baron, welche Arbeit nennen Sie standesgemäß?‘

‚Jede, welche ehrlich ist; vom Baronstitel kann ich wahrhaftig nicht satt werden.‘

‚Sehr vernünftig, mein lieber Armand,‘ lachte er, ‚das Leben scheint Manchem eine Last, dem Andern nur ein Vergnügen, Dieser verkürzt es sich selbst, Jener will es ewig haben, meine Devise ist: Der Mensch muß zu leben verstehen.‘

Ich lernte fleißig, da ich aber doch Kleider brauchte, suchte ich Geld zu erwerben. Ich schrieb für Autoren die Manuscripte in das Reine, las später Correcturen, und weil ich doch Bewegung brauchte und nicht Zeit zum Spazierengehen hatte, so ging ich täglich früh und Abends, nachdem ich eine Blouse übergeworfen und eine Mütze aufgesetzt hatte, auf einen der Bahnhöfe und trug, was ich nicht zu schwer fand und eben bekommen konnte. Ich machte damit täglich drei bis fünf Franken, nie weniger, zuweilen mehr. Als ich eben ausstudirt, starb mein bester Freund, der für mich gesorgt hatte, mehr als mein Vater. Er hinterließ mir einige Pretiosen und dreitausend Franken. Einen Theil des Geldes legte ich in eine Sparcasse, den andern benutzte ich zu einer Reise nach Deutschland, wo ich viel lernte. Ich spürte die Neigung, Schriftsteller zu werden, und täglich wuchs mein Schaffenstrieb. Ich wollte für die Bühne schreiben und hatte mir demnach ein hohes Ziel gesteckt. Aber, ehe ich Ruf gewinnen kann, ehe mein Drama zur Aufführung kommt, muß ich doch leben! Und wie kann ich, wenn ich Dramen schreiben will, Geld erwerben? So dachte ich! Ich beschloß also, nach wie vor jeden Tag wenigstens einmal den Lastträger zu machen, um doch tagtäglich etwas Geld zu erwerben, auch wandte ich jede Woche einen, zuweilen auch zwei Tage auf Lesung von Correcturen. Ich habe, da ich leicht arbeite, auch einige Romane geschrieben, welche mit Beifall aufgenommen und mir ziemlich hoch honorirt wurden, allein die Bühne lockte mich mehr als das Gebiet des Romans. Ich miethete mir eine ländliche Wohnung in der Nähe des Südbahnhofes und lebte daselbst, meine Zeit zwischen Hand- und Kopfarbeit theilend, sehr behaglich. Vor etwa zwei Jahren sah ich zum ersten Mal meine Helene, zu einer Zeit, wo ich eben Herr und nicht Diener war. Später hat sie mir gestanden, daß sie auch mich bemerkt gehabt hat; unsere Liebe war: Liebe auf den ersten Blick, gegenseitig, folglich glücklich! Als ich Helenen näher kennen lernte, entdeckte ich täglich schönere Eigenschaften des Geistes und Herzens an ihr und erbat von ihrer Tante – Helene ist eine Waise – die Genehmigung, mich um der Nichte Herz bewerben zu dürfen. Wir verlobten uns, von Heirath wollte aber Madame Leon eher nichts wissen, als bis ich meiner Braut eine gesicherte Existenz bieten könnte, da Helene selbst nur ein sehr geringes Vermögen besitzt. Indeß, ich hatte durchaus nicht Lust, Helenen und mir das Leben durch Hoffen und Harren zu verbittern. Ich arbeitete einige Monate angestrengt, um ein hübsches Sümmchen in der Hand zu haben, dann bestürmte ich die Tante so lange mit Bitten, bis sie nachgab, und – meine geliebte Braut wurde meine Frau. Ihr sagte ich ehrlich, wie hoch sich meine Einnahmen beliefen, und sie erklärte, daß es ihr ebenfalls Freude machen würde, Geld zu erwerben. Sie ist eine ebenso geschickte wie flinke Stickerin; die Morgenstunden, welche ich bei meinem Schreibtische zubringe, benutzt sie, um am Stickrahmen allerhand Zierlichkeiten zu schaffen, welche sie in die Läden abliefert. Die späten Nachmittags- und Abendstunden benützen wir zum Ausgehen, oder ich lese ihr vor, während sie näht, kurz, wir leben höchst vergnügt. Da wir einander das Wort gegeben haben, vor vier Uhr, wo wir speisen, niemals Feierabend zu machen, so freuen wir uns

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